Ankara festigt seinen Anspruch als Führungsmacht im Nahen Osten.

Europa und die USA zögern im Syrien-Konflikt – und überlassen damit der Türkei das Feld. Premier Erdogan präsentiert sich als Krisenmanager, organisiert Hilfe für die Flüchtlinge und droht mit der Nato. Ankara festigt seinen Anspruch als Führungsmacht im Nahen Osten.

Hamburg – Es sind grausame Szenen, die sich nun schon seit Monaten an der syrisch-türkischen Grenze abspielen: Tausende Syrer fliehen vor den Schergen des Diktators Baschar al-Assad. Viele sind verwundet, berichten von Folter, Vergewaltigungen, Hinrichtungen.
Es sind aber auch Szenen der Menschlichkeit: Die Türkei nimmt die Schutzsuchenden in Zelten auf. Sie hat Krankenstationen errichtet, um Verletze zu versorgen. Nachbarn helfen mit Lebensmitteln.
“Erinnern Sie sich noch, wie die afrikanischen Flüchtlinge aus Tunesien und Libyen während des Arabischen Frühlings in Italien behandelt wurden?”, fragt nun der frühere Chefredakteur der türkischen Tageszeitung “Hürriyet”, Ertugrul Özkök. Menschenrechtler kritisierten damals die rücksichtslose Abschottungspolitik der EU auf der Mittelmeerinsel Lampedusa. Özkök weist darauf hin, dass europäische Werte in der gegenwärtigen Notsituation ausgerechnet von der viel gescholtenen Türkei verteidigt werden.
Die Regierung von Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan verfolgt aber auch eigene Interessen in dem Konflikt: Syrien ist ein wichtiger Handelspartner.
Auf beiden Seiten der Grenze leben Kurden. Die Unruhen gefährden die Stabilität in der Region, die durch die Auseinandersetzung zwischen dem türkischen Militär und der kurdischen Terrororganisation PKK ohnehin latent bedroht ist.
Erdogan setzt sich also nicht nur aus Altruismus für den Sturz des syrischen Diktators Assad ein oder aus der von staatsnahen Medien oft beschworenen “Solidarität mit den muslimischen Brüdern in Syrien”. Die Kriegsflüchtlinge stellen das Land dazu noch vor eine humanitäre Herausforderung, die es allein zu schultern kaum mehr in der Lage ist. Aber wie die Regierung die Krise bislang managt, wie sie sich bemüht, das Chaos zu bewältigen, das nötigt selbst Kritikern des Premiers Anerkennung ab.
Und mehr noch: Weil sich Europa und die USA wegducken, entscheidet sich das Schicksal der Syrer in Ankara.
“In naher Zukunft wird die Türkei wichtiger sein als Großbritannien”
“Europa hat Syrien einem osmanischen Schicksal überlassen”, schreibt der britische Historiker Timothy Garton Ash im “Guardian”. Der Westen hätte schon vor Wochen durch eine Militärintervention dem Morden in Syrien ein Ende setzen müssen, kritisiert Garton Ash. Doch anders als in Libyen fehlt der politische Wille. US-Präsident Barack Obama und Frankreichs Regierungschef Nicolas Sarkozy haben Wahlen vor sich, und Deutschland fällt bei Kriegseinsätzen als Führungsmacht aus gutem Grund ohnehin aus.
Andere Mächte übernehmen deshalb im Nahen Osten die Regie. “In naher Zukunft wird die Türkei wichtiger sein als Großbritannien”, prophezeit Garton Ash, “Iran wichtiger als Deutschland, Saudi Arabien als Frankreich, Russland als Amerika.” Am Fall Syrien zeichnen sich Konturen einer neuen Weltordnung ab, die US-Journalist Fareed Zakaria als “Aufstieg der Anderen” beschreibt.
Nun trat der türkische Premier Erdogan ausgerechnet bei einem Besuch in China mit einer erstaunlichen Forderung an die Öffentlichkeit. “Die Nato hat eine Verantwortung zum Schutz der türkischen Grenze zu erfüllen”, sagte Erdogan und drohte Syrien mit einem Einsatz des Verteidigungsbündnisses. Es ist ein abenteuerlicher Vorstoß. Zwar hatten syrische Truppen zuvor Schüsse auf ein Flüchtlingslager in der Türkei abgefeuert und dabei zwei Syrer getötet. Aber selbstverständlich weiß Erdogan, dass dies kaum dazu ausreichen dürfte, den Nato-Bündnisfall auszurufen, wie dies zuletzt nach den Terroranschlägen vom 11. September 2001 geschehen war.
Türkei etabliert sich als globale Führungsmacht
Darum geht es dem türkischen Ministerpräsidenten auch nicht. Erdogan ist nicht so naiv, wie manche westliche Berichterstatter nun mutmaßen, obwohl sie es nach zehn Jahren Regentschaft seiner muslimisch-konservativen AKP besser wissen müssten. Seine Drohung ist wohlkalkuliert. Er signalisiert Syriens Noch-Herrschern, dass mit ihren Gegnern zu rechnen ist, und er beweist dem Westen, dass es die Türkei ist, die im Moment im Nahen Osten die Spielregeln diktiert.
Ankara diskutiert seit längerer Zeit die Frage, wie sich ein Militärschlag gegen Syrien völkerrechtlich legitimieren lässt. Sehr viel aussichtsreicher als deutsche und amerikanische Nato-Soldaten auf türkischem Boden erscheint dabei der Bezug auf einen Vertrag, den die Türkei mit Syrien 1998 auf dem Höhepunkt des Kurden-Konflikts geschlossen hat. Im Abkommen von Adana heißt es unter Artikel 1, Syrien billige keine Handlung, die die Sicherheit und Stabilität der Türkei unterwandert. Türkische Diplomaten erwähnten dieses Abkommen in den vergangenen Tagen wiederholt, wenn von einem Militäreinsatz in Syrien oder einer militärischen Pufferzone an der Grenze die Rede war.
Die Türkei, vor einigen Jahren noch als der “kranke Mann am Bosporus” verspottet, etabliert sich als globale Führungsmacht. Erdogan verfolgt eine Strategie, die Beobachter als “Neo-Osmanismus” beschreiben. Er macht seinen Einfluss weit über die eigenen Landesgrenzen hinaus geltend.
Nach seinem Wahlsieg im vergangenen Juni, dem dritten in Folge, verkündete Erdogan, dies sei nicht nur ein Erfolg für Istanbul und Ankara, sondern ebenso für Beirut und Damaskus. In der krisengeplagten Region bestimmt der Sultan zunehmend die Agenda.

http://www.spiegel.de/politik/ausland/0,1518,827463,00.html

Kaltstart X - Das Buch von Ahmet Refii Dener

Das könnte dich auch interessieren …