Türkei 2006 – Der Tiger an der Pforte Europas

Mit diesem Artikel bekam Eva Stanzl in 2006 Österreichischen Zeitschriftenpreis. Ich finde es lohnt sich diesen Artikel nochmals aufzuwaermen.

Türkei als langfristiges Ziel für Expansionswillige

Der Tiger an der Pforte Europas

Ihr EU-Kandidatenstatus bringt der Türkei neue Auslandsinvestitionen. Unternehmen begehren Chancen auf dem neuen Riesenmarkt sowie die Chance, von dort aus weiter zu gehen: Die Türkei als Sprungbrett in den Mittleren Osten. Das erkennen jedoch österreichische Unternehmer erst vereinzelt. Sie werden heiß umworben, und gewarnt: Baut vor für Zeiten, in denen Mittel- und Südosteuropa nicht mehr das große Geld bringt. Von Eva Stanzl

„Wenn Sie Bulgarien und Rumänien addieren, haben Sie, was die Türkei leistet“, beschreibt Richard Bandera, Handelsdelegierter in Ankara, die große Unbekannte. Es  klingt fast wie eine diplomatische Untertreibung. Denn allein Vorstellungen wie diese kurbeln die Fantasie an: Mit 70 Millionen Einwohnern ist die Türkei doppelt so groß wie alle neuen EU-Mitgliedstaaten zusammen, doppelt so groß wie Bulgarien und Rumänien und um ein Drittel größer als die Ukraine – ein enormer Markt also. Und westeuropäische Großkonzerne erwägen in Südosteuropa bereits die ersten Verkäufe – jüngst die Raiffeisen International den Verkauf einer Bank in der Ukraine. Da das besonders gute Geld aber meistens die Pioniere machen, müsste man also meinen: Nichts wie hin in die Türkei, und zwar jetzt, wo noch (fast) niemand dort ist. Willi Hemetsberger, Vorstand für International Markets der Bank Austria-Creditanstalt, betonte jüngst in der firmeneigenen Zeitung: „So positiv die Einschätzung der Türkei in den letzten Jahren war, hat sich das Land noch viel besser entwickelt, als wir erwartet hätten. Sie ist sozusagen der asiatische Tiger an der Pforte Europas.“

Von den 28.000 exportierenden österreichischen Unternehmen machen allerdings erst  500 Geschäfte mit der Türkei. Denn bis vor drei Jahren war das Land noch kein besonders interessanter Investitionsstandort. Erst seit dem 2002 die Möglichkeit eines EU-Beitritts in Aussicht gestellt wurde, werden Finanzdisziplin und Strukturen reformiert, internationale und EU-Standards implementiert. „Im gesamteuropäischen Kontext liegt die Türkei weit hinter den anderen Ländern. Aber sie hat aufgeholt“, betont Ismail Ergener, Vorstand der Deniz Bank in Istanbul. Um die Budgetvorgaben der Maastricht-Kriterien zu erreichen, zog sie ein vom internationalen Währungsfonds vorgegebenes Reformgramm durch. Die Regierung strich sechs Nullen von der türkischen Lire und wertete sie damit auf. „Wer jetzt noch Millionär ist, ist es wirklich“, sagt Ergener. Zwar ging die Türkei schon 1980 in eine Marktwirtschaft über und wurde danach eine Handels- und Zollunion mit der EU geschlossen. Doch erst jetzt kann das Land vergleichsweise stabile Investitionsbedingungen bieten. Seit Oktober 2005 laufen EU-Beitrittsverhandlungen mit anvisiertem Beitrittstermin (frühestens) 2015. Und seitdem entwickelt sich die Türkei zu einem Brennpunkt für Auslandsinvestitionen und Privatisierungen. In den letzten drei Jahren lagen die Wachstumsraten bei acht Prozent – langfristig rechnet man mit durchschnittlich fünf.

Globale Marken

Führende Auslandsinvestoren sind Frankreich, Deutschland und die Niederlande. Zuckerfabriken, Autobahnen und Telekomverbindungen werden privatisiert, da der Staat sich im Alleingang nötige Modernisierungen nicht leisten kann. Die Landwirtschaft wird reformiert, Hafenbetriebe an ausländische Betreiber verpachtet. Als besonders chancenreich gelten auch die Automobilzuliefer- und Textilindustrie. Mit Konzernen wie Beko, Mavi oder Efes hat die Türkei globale Marken geschaffen. Und Giganten wie Renault, Ford, Fiat, Pirelli, Mercedes, Bosch, Siemens, Vaillant, Coca-Cola, H&M und Unilever produzieren auf türkischem Boden. 40 Prozent der türkischen Wirtschaftskraft sitzt in Istanbul und zwei Drittel in der Region um Istanbul. Jedes dritte TV-Gerät, das in der EU verkauft wird, ist Made in Turkey. Kaum ein Autohersteller hat keine Fabrik in der Türkei, das Renault-Werk gilt als beispielhaft für Qualität. Die „Financial Times“ bewertete jüngst die Industriegebiete um Izmir (Manisa) und Istanbul (Kocale) als zu den  interessantesten Investitionsgebieten der Welt gehörend.

Zwar hat die Türkei keine nennenswerten Erdöl- und Erdgasvorkommen. Jedoch führen Energiepipelines durch das gesamte Land. Ihre Nähe zu erdölproduzierenden Ländern gilt als unersetzliches Kapital für Westeuropa. „Die Türkei sieht sich als Knotenpunkt. Und sie erkennt immer mehr ihre strategische Rolle zwischen Ost und West und versucht, ihren Handel zu verstärken mit Ländern wie Armenien, Iran, Syrien oder Aserbaidschan. Gefragt sind nicht nur Energie, sondern auch Maschinenbau, Stahl, Güter der chemischen Industrie und Haushaltsgüter“, erklärt Julia Wörz, Handelsexpertin des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche. Allerdings: „Die Brückenfunktion in Richtung Mittlerer Osten ist sicher langfristig zu sehen aufgrund der politischen Instabilitäten in diesen Ländern.“

Langfristiges Engagement

Langfristig plant wohl auch OMV-General Wolfgang Ruttenstorfer mit seiner Drittel-Beteiligung am führenden türkischen Tankstellenbetreiber Petrol Ofisi, der 3.600 Tankstellen in der Türkei betreibt. Damit versorgt die OMV nun zusätzliche 1,4 Millionen Kunden am Tag. Und die Nabucco-Pipeline, die 2011 fertig sein soll, soll planmäßig Erdgas von der Türkei bis ins österreichische Baumgarten an der March zum zentralen Verteilerzentrum der OMV für Erdgas bringen. Die Pipeline soll die EU mit kaspischen und iranischen Erdgasvorkommen verbinden und damit ihre Abhängigkeit von russischen Erdgasimporten verringern.

Langfristig sieht auch Hannes Posch, Leiter des Innsbrucker Ingenieurbüros Posch&Partner, sein Engagement in der Türkei. Er und seine 20 Mitarbeiter sind auf Projektmanagement im Bereich Wasser- und Abwasseranlagen und Kleinkraftwerke spezialisiert, „von der Erstüberlegung bis zur Inbetriebnahme.“ Er kam 1995 über ein Projekt zur Abwasser- und Müllentsorgung in Südostanatolien in die Türkei, und ist mittlerweile auch an Projekten in Zentralasien und Kasachstan tätig. Sein Tipp: „Bei großen Projekten braucht man internationale Finanzierungen oder Privatinvestitionen. Die Zusammenarbeit mit dem türkischen Staat ist schwierig, denn die sagen: Wir haben unsere eigenen Leute, brauchen keine Ausländer.“ Allerdings arbeitet Posch bei der Umsetzung „prinzipiell mit lokalen Firmen zusammen, denn die Jungen arbeiten hervorragend.“

Nischenfunktion

Im Unterschied dazu ist die Breite österreichischer Unternehmer allerdings zurückhaltend. Österreichische Firmen exportieren derzeit hauptsächlich Maschinen und Apparate, Stapelfasern, Zugmaschinen oder Kraftfahrzeuge und Technologie-Knowhow in die Türkei. Franz Rössler, Regionalleiter für Südosteuropa der Handelskammer, betont: „In der Türkei funktioniert schon viel, da muss man nicht alles neu erfinden. Gefragt ist allerdings spezialisiertes Knowhow: Etwa in der Wasserkraft, wo schon jetzt Österreicher bei einem Drittel aller türkischen Projekte dabei sind.“ Weniger im Straßen- oder Wohnbau, denn gerade in der Bauwirtschaft sei die Türkei gut, wohl aber bei Spezialanwendungen: „Tunnelbau könnte gehen, auch für Projekte in Zusammenarbeit mit türkischen Firmen in Drittländern.“ Chancen gibt es auch für österreichische Saatgut-Produzenten: Die Türkei muss 90 Prozent ihres Saatguts, etwa aus Israel, importieren, da man für dessen Entwicklung und Produktion Lizenzen braucht. Diese kosten viel und sollen für Türken schwer zu bekommen sein. Generell aber sei ein so großer Markt „schwierig für österreichische Unternehmen. Anders als in Slowenien, Kroatien oder der Slowakei hat Österreich keine Nischenfunktion in der Türkei“, erklärt Rössler. Besonders KMU können auf einem vier Millionen-Einwohner-Markt wie Kroatien leichter Marktlücken füllen, „weil das relativ geringe Investitionen benötigt. Ein großer Markt ist teurer, und wir haben in der Türkei noch nicht so viel Erfahrung.“

An der Nische und der Größe und am Mut allein kann die heimische Zurückhaltung jedoch nicht liegen. Sind die Österreicher auf dem 22-Millionen-Einwohner-Markt Rumänien die Nummer Eins unter den Auslandsinvestoren, liegen sie in der Türkei nur auf Rang 17: Wenn expandieren, dann nach Südosteuropa, scheint die Devise der heimischen Unternehmer zu sein. Gehören die österreichischen Banken in Mittel- und Südosteuropa zu den Größten, sind sie in der Türkei noch nicht einmal richtig angekommen. Einzig die Bank Austria denkt an einen Ausbau des Türkei-Geschäfts, macht sich dabei aber alles andere als Druck: Seit dem Verkauf ihrer polnischen Tochter BPH habe sie von Mutterkonzern UniCredito neun weitere Ost-Banken zur Betreuung übernommen, erklärt  BA-CA-Sprecher Peter Thier. Er erwarte eine Entscheidung darüber, ob die BA-CA auch das Türkeigeschäft verantworten soll, „im Laufe des Jahres“. Alles hänge davon ab, ob der Mutterkonzern seinen türkischen Joint Venture-Partner, die Koçbank, davon überzeugen könne. Zuletzt hätten UniCredito und Koçbank jedenfalls schon ihren Anteil an der türkischen Yapı Bank auf 65,5 Prozent aufgestockt.

Unter 25-Jährige

Wirtschaftlich Denkende, die ihr Geld nicht schon woanders investiert haben, müssten allerdings hüpfen ob der Fakten, die das Land zu bieten hat. Ein Viertel der türkischen Bevölkerung sind unter 25 Jahre alt – undenkbare Demografie in westlichen Ländern. Felix Hafele, der die Personalberater Neumann in Istanbul vertritt, erklärt: „Junge Führungskräfte werden in der Türkei von türkischen und internationalen Unternehmen herangebildet und dann aus den Unternehmen heraus exportiert, vor allem dort hin, wo eine hohe Anpassungsfähigkeit gefordert ist. Die Jungen haben eine enorme Risikobereitschaft: Sie fragen, was können wir machen, wie können wir es verändern.“ Bei den Gehältern auf Management-Ebene sei die Leistungskomponente mit 30 bis 40 Prozent vergleichsweise, der Anteil von Frauen in gehobenen Positionen überdurchschnittlich hoch. Zudem herrsche bei den Leuten unter 59 Jahren, die 60 Prozent der Bevölkerung ausmachen, ein veritabler Konsum-Boom: Wurden 2001 noch 285.000 Autos in der Türkei produziert, waren es 2005 schon 914.000 (Deutschland: 5,6 Millionen).

Landwirtschaft und Häfen

Soll der EU-Beitritt tatsächlich 2015 durchgeführt werden, müssen allerdings noch eine Menge Veränderungen in Angriff genommen werden – mit ausländischem Geld, deswegen werden zwischen in- und ausländischen Investoren kaum rechtliche Unterschiede gemacht. Im Vorjahr erhielt das Land 300 Millionen Euro Vorbeitrittshilfe von der EU für Strukturreformen alleine für die Landwirtschaft. 2006 werden es 500 Millionen Euro sein. Dieses Geld sei nötig, sagt Bandera. Denn einzelne moderne Betriebe stünden derzeit noch einem Bulk an familiär geführten Bauernhöfen gegenüber, die „nie gegen einen geöffneten Agrarmarkt antreten können.“ Ziel sei, die Landwirtschaft „auf europäische Standards“ hinzutrimmen, vergleichbar mit jenen der Niederlande oder Dänemark. Allerdings mit einem flächenmäßigen Limit für ausländische Großgrundbesitzer.

Häfen, die früher im Staatsbesitz waren, werden auf Zeit privatisiert: Sie sollen an ausländische Betreiber verpachtet werden. Innerhalb einiger Jahrzehnte müssen die Pächter ihre Investitionen refinanzieren. Denn „was in der Türkei fehlt, ist Geld für Infrastruktur“, sagt Bandera. Einem „Ausverkauf“ werde jedoch mit diesen Limitierungen entgegengewirkt. Die Pionierarbeit ist also anders als in den ex-kommunistischen Ländern: „Die Türken sind Kapitalisten und viel westlicher als die neuen Beitrittsländer. Mit dem einzigen Unterschied, dass man, wie früher in Österreich, jetzt draufkommt, dass Staatsbetriebe nicht so gut funktionieren.“

Unterschiedliche Einkommen

In den Städten und an der Ostküste ist das Einkommensniveau in etwa so hoch wie in Ungarn, in anderen Gebieten jedoch so niedrig wie in Weißrussland. Auch die Betriebslandschaft ist bunt gefleckt. „Es gibt hier einerseits hochmoderne Industrieanlagen, und auf der anderen Seite Betriebe, die wie vor drei oder vier Generationen geführt werden, sagt Hafele. Personal sei von unterschiedlicher Qualität: „An den Hochschulen gibt es ein Punktesystem: Erreicht ein Student eine vorgegebene Punktezahl nicht, bekommt er ein anderes Studium zugewiesen. Viele machen also im Endeffekt etwas, was sie gar nicht wirklich wollen.“ Motivation entsprechend.

Çağlayan Çalışkan sieht die Sache differenzierter. Er beobachtet: „Derzeit trauen sich vor allem die Großkonzerne in die Türkei, kleinere sind noch in kleineren Ländern. Aber jeder kann sein Brot in der Türkei verdienen und das Interesse wächst.“ Zwar hätten derzeit nur 100 Österreicher (ca. 4.000 Deutsche Unternehmen. Anmerkung ARD) eine Niederlassung, „aber vor zwei Jahren waren es nur 50“, sagt er hoffnungsfroh. Der Anfangvierziger hatte an der Handelsmarine in Izmir, seiner Heimatstadt, studiert, und kam Anfang 20 als Schiffskapitän nach Wien. Wo er seine erste Frau kennenlernte – und blieb. Çalışkan wurde später Banker und machte sich schließlich als Teil eines Berater-Netzwerks selbständig. Heute hat seine imPuls Unternehmensentwicklung Firmensitze in Wien und Izmir. Er berät Unternehmen, die in die Türkei respektive nach Österreich expandieren wollen, sieht Geschäftsbeziehungen „im Unterschied zu Gastarbeitern, die in einer gesellschaftlich schwachen Position sind“ auch als kulturelle Brücke, und er ist einer, der solche Brücken schafft.

Trinkgläser in die Türkei verkaufen

Çalışkans Kunden sind Riesen wie Mayr Melnhof oder Austria Tabak. Sein Team von zwölf Beratern macht alles aus einer Hand. „Wenn Sie Trinkgläser in die Türkei verkaufen wollen, ist Grundvoraussetzung eine Auswertung der Branche“, sagt er: Weiter geht es um die Positionierung, Standortauswahl, ob jemand sein eigenes Personal bringt oder vor Ort rekrutiert, was die Leute können müssen und wie eine Stellenausschreibung aussehen muss. Anwälte, Sprachkurse, Büros, Wohnungen, Infrastruktur, Computerkäufe – alles gehört dazu: „Selbst, wenn jemand nur einfach exportieren will, ist es nicht genug, eine Messe zu besuchen und dort einen Vertreter zu engagieren.“ Vielmehr sollten sich Unternehmer schon davor eine Türkei-Strategie zulegen, denn: „Erwischt man den falschen Vertreter, hat man seinen Namen in den Sand gesetzt.“

Eher als Lügner allerdings „erwischen Sie in der Türkei Partner, die es ernst mit Ihnen meinen, aber andere Vorstellungen haben. Man muss also klar sagen, was man will.“ Zielklarheit, interkulturell geschulte Verantwortliche als Kulturübersetzer und die richtige Auswahl von Experten als Projektbegleiter seien essentiell. Personalberater Hafele fügt dem hinzu: „Die Leute sind gewohnt, zu kommunizieren und wollen kommunizieren. Der Austausch von Ideen ist sehr wichtig, und auch genau daran kann es schnell scheitern: Zu Beginn der Zusammenarbeit ist häufiges Hin- und Herfahren notwendig, und wenn das nicht geht, sollten Sie täglich telefonieren, wenn auch nur um zu fragen, wie es geht, oder eine türkische Vertrauensperson in den Verwaltungsrat nominieren.“

Wie nuancenreich kulturelle Unterschiede sein können, illustriert Çalışkan mit einem Beispiel. Er erklärt: „In Österreich kommen Sie nach einer Veranstaltung einfach zu mir  und fragen mich um ein Interview. Wären Sie eine Türkin, würden Sie es aber so formulieren: Das war ein interessanter Vortrag, darf ich Sie zum Tee einladen? Und damit würde ich wissen, dass Sie – als Journalistin – ein Interview wollen. Meine Antwort wäre darauf: Ja, wenn nichts dazwischen kommt – was eine Türkin als klares „Ja“ verstehen würde. Als Österreicherin hingegen verstehen Sie: Den interessiert das nicht wirklich. Auch das ist ein kultureller Unterschied.“

 

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