Chemisch kühl analysiert: die türkische Immobilienblase und warum es ihr so gut geht

galatakulesiImmobilienblase heißt im Türkischen “konut balonu”, und die gibt es nicht, und darum kann sie auch nicht platzen. Sagen die Regierung und das türkische Statistikamt. Alle zwei Minuten wird in der Türkei derzeit eine Wohnung verkauft, meldet das Amt. Das ist – wenn der Vergleich erlaubt ist – deutlich mehr als die Zahl der Bauarbeiter, die in diesem Land wegen Schludrigkeit der Unternehmer oder auch eigener Nachlässigkeit ums Leben kommen: alle zwei Tage ein Arbeiter, statistisch gesehen.

Gleich um ein Viertel ist der Wohnungs- und Häuserkauf vergangenen Oktober im Vergleich zum Vorjahresmonat in die Höhe geschossen. 25,3 Prozent plus, sagt das Statistikamt, oder 95.645 Wohneinheiten (im Juli war es dagegen noch bergab gegangen). In sieben Jahren sind in der Türkei fünf Millionen Wohnungen vertickt worden, 150 Milliarden Dollar werden im Jahr für Immobilien ausgegeben, so heißt es jetzt. Falls irgendwo noch Zweifel bestehen über mögliche Restgene der Seldschuken: alles wegevolutioniert. Die Türken von heute sind so etwas von sesshaft, dass jedes Reitervolk beim Anblick der Hochhauslandschaften, mit denen der Staatsbauorganismus TOKI das Land überzogen hat, seinen Pferden die Sporen gibt und ganz schnell die Weite Zentralasiens sucht.

Da aber nun alles endlich ist auf dieser Welt, muss auch das Geschäftsgebaren der türkischen Immobilienbranche ein messbares Volumen haben und also einen Raum einnehmen. Aus dem Chemieunterricht erinnern wir uns mühelos, dass man nur Druck (p) mit Volumen (V) multiplizieren und dann durch die Temperatur (T) teilen muss, und schon haben wir die Konstante, etwa für das türkische Immobiliengas. Das heißt, nicht ganz, weil wir noch die Ausdehnung dieses finanziell außerordentlich lukrativen Treibgases über die Fläche der türkischen Republik (783.526 Quadratkilometer) mit einer angenommenen durchschnittlichen Bauhöhe von acht Stockwerken (50 Meter) in Rechnung setzen müssen, wobei die Volumenerhöhung (ΔV) in unserem Immobilienballon natürlich noch in Gang ist, der applizierte Druck (Δp) hingegen von einer Reihe von Variablen für die Kaufintensität abhängt und somit die Elastizität des Ballons bestimmt: Optimismus (es wird schon gutgehen), Realismus (bis jetzt ist doch noch alles gutgegangen), Pragmatismus (besser ich kaufe als ein anderer), Familialismus (die Kinder sollen es doch gut haben).

Solange also noch Platz ist und Staatschef Erdogan das Land bei Laune hält, kann weiter gekauft werden. Und kredittechnisch bewältigt ein türkischer Käufer eine 250-Quadratmeter-Wohnung nicht schnell, aber doch in absehbarer Zeit: 23 Jahre – alles rein statistisch. (Markus Bernath, derStandard.at, 27.11.2014)

Quelle : derstandard.at

Foto : Recci Musab

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