In die Hose gehen | Pantolonun icine girmek (auf Türkisch*)

So fängt doch kein Blogbeitrag an, werdet Ihr sicher sagen, aber es ist so. Als ich auf meine, auf dem Stuhl hängende Jeans schaute, fiel mir diese Geschichte ein.

Es geht um einen türkischen Freund aus Köln. Wenn es um Geschäfte, Ausdauer, Selbstbewusstsein und Gutherzigkeit geht, denke ich oft an ihn. Er kam in den 80er Jahren nach Deutschland.mr.big

Die Selbständigkeit hat er im Blut gehabt. Den Tag als er sein Arbeits- und Aufenthaltserlaubnis bekam, stellt er als seinen Schönsten hin. Noch vor dem Tag, wo sein Sohn auf die Welt kam.

Er fängt schon an den ersten Tagen in Deutschland an, Textilien hin und her zu bewegen. Zuerst kleine Mengen. Danach aber auch größere Mengen. Es waren D-Mark Zeiten. Zur Ruhe kam er durch die größeren Verkäufe nicht, zumal die Geschäfte nicht dauerhaft gut liefen.

Es gab auch Wochen und Monate, wo nichts lief und Schulden aufgebaut wurden. Bei jedem Geldeingang zahlte er diese erst einmal ab, bis er merkte, dass wieder nichts übrig geblieben war.

Einmal hat er aber an einer Geschäftsvermittlung 80.000 DM auf einem Schlag verdient. Das war sein Neubeginn und Wiedergeburt, wie er sagte. Das war auch der Tag, an dem ich ihn kennenlernte.

Ich bekam so die Chance etwas einmaliges zu erleben. Er ging in seine 3 Zimmerwohnung, holte sich sein Pass und betrat diese Wohnung nie wieder. Nicht das Ihr jetzt denkt, er hätte eine Weltreise gemacht. Nein, er mietete sich eine neue Wohnung, kaufte sich bis zur Unterwäsche alles neu. Nichts sollte ihn mehr an die früheren schlechten Zeiten erinnern. Das sollte ein Neuanfang sein.

Er schickte, so wie immer eigentlich, Geld an die Familie in die Türkei. Dieses eine Mal war der Unterschied, dass es kein geliehenes Geld war.

Da ich an dem o.g. Geschäftsvorgang beteiligt gewesen bin, wusste er, dass ich als sein persönlicher Schutzengel zu ihm geschickt worden war. Nicht nur als Engel, sondern auch als Dolmetscher. Er sprach nämlich kein Wort Deutsch.

Hallo, Guten Tag, Ciao, ich gehen, Jacke, Unterwäsche, Hemd, Hose, Textil, Türkei gut machen, du mir Auto leihen, du kommen, du bezahlen, Pizza Essen, Schweine drin?,  ich verkaufen, was du machen?, nicht teuer sein, billig sein, ich lieben Köln, wie weit Dom ? (sollte bedeuten : “Wie weit vom Dom?”), du für mich Frau finden, ich lieben, schwer Geschäft, ja, nein, ich  machen… Eigentlich hätte ich an dieser Stelle auch ein Punkt setzen können. Mehr Deutsch wahr nicht drin. Und dieser Mann machte Geschäfte und traute sich alles zu.

Der Neuanfang, hat sich leider nicht als solches bewahrheitet. Kaum mehr größere Geschäfte, Marktverkäufer mit Kommissionsware, hin und wieder kleinere Vermittlungen.

Als Türkei-Berater war ich ständig unterwegs und konnte geschäftlich nicht immer an seiner Seite sein. Nur er wusste, dass er auf mich zählen konnte. Schließlich war ich ja als Engel zu ihm geschickt worden. Das ist harte Verantwortung kann ich nur sagen.

Warum er für mich ein ‘Großer’ ist, hat mehrere Gründe. Dabei möchte ich nicht einmal seinen Ehrgeiz, Geschäfte zu machen, erwähnen. Das hatte er einfach im Blut. Als ich mal länger, wegen einem Projektes, außerhalb Kölns war, wurde er sogar obdachlos und schämte sich mir dieses zu sagen. Ich habe es von anderen erfahren. Sofort organisierten wir was für ihn, denn sein Selbstvertrauen durfte keinen Knacks bekommen. Selbst zu diesen Zeiten hat er kein Sozialhilfe beansprucht. Er sagte, danach könne er nicht mehr selbständig sein und hätte nicht mehr das Selbstvertrauen, was er immer hat.

Ich kann Euch sagen ; Engel sein ist ein harter Job. Das vor allen Dingen, wenn man ein irdischer ist und selber hart arbeiten muss.

Noch etwas anderes machte ihn in meinen Augen zum Größten. Eigentlich hat er 90% der Zeit, die er in Deutschland lebte, nur Leid und finanziellen Not erfahren. Eines hat er aber nicht aus den Verloren. Die Ausbildung seine Sohnes. Sein Sohn hat im Fernost an einem der besten Universitäten studiert und gerade seinen Abschluss gemacht. Um die Privatsphäre des ‘Großen’ zu schützen, nenne ich das Land, wo sein Sohn studierte, besser nicht. Er war nämlich der einzige türkische Absolvent, dessen Vater in Deutschland lebte.

Gerade kämpft er dafür, dass er das Geld für den Militärdienst seines Sohnes in der Türkei organisiert bekommt, damit er sich für ca. 7.000 Euro freikaufen kann.

Das Hoffen, dass er mal wieder ein dickes Geschäft macht, wieder die Wohnung wechseln kann, flackert immer noch in ihm.

Jetzt werdet Ihr sagen, was hat das ganze mit meinen Jeans zutun. Der ‘Große’ rief mich mal vor Jahren an und fragte, ob ich für ihn im Büro dolmetschen könnte. Ich sagte, dass ich in wenigen Stunden wegfliegen würde und das ganze zu knapp wird.

Als er aber sagte, dass er evtl. ein Geschäft machen und wieder die Wohnung wechseln könne, konnte ich nicht nein sagen. Ich war seine letzte Hoffnung.

Sofort fuhr ich in sein Home-Office. Er wollte mit dem Textileinkäufer ein Telefonat führen und ich sollte für ihn übersetzen. Es waren schon Faxe an Zeichnungen hin und her gegangen. Der Einkäufer fragte ihn, ob der ‘Große’ dieses und jenes auch produzieren lassen könne. “Ich machen”, “Ja, ich machen”.

Der Gesprächsverlauf war so schnell, dass wir Verständigungsschwierigkeiten untereinander bekamen. Der Kunde sollte nämlich nicht merken, dass ich dabei war. Dann sagte der Einkäufer : “Herr …., Sie sagen zu allem ‘ich machen’, nicht das das in die Hose geht”. Was sagte er daraufhin ? “Ja, ich machen, ich auch Hose machen”.  🙂 Der Einkäufer lachte sich krumm auf der anderen Seite und ich lachte auch nicht minder wenig. Dann tat ich so, als ob ich zufällig ins Zimmer kam und übersetzte richtig. Er bekam den Auftrag. Wieder waren einige Monate gerettet und wieder zog er um.

Das war das erste Mal in meinem Leben, wo ich so knapp den Flieger erwischte. Sonst lasse ich mir richtig Zeit und  genieße die Flughafenaufenthalte. Ich bin , so glaube ich, einer von Wenigen, die sogar den Verspätungen etwas Gutes abgewinnen können.

Übrigens, auch wenn der ‘Große’ so viel Leid und Schwierigkeiten erfuhr, er ist dankbar. Er sagt ‘Großer’ zu mir und erzählt, bei immer seltener werdenden Treffen in Köln vor allen Leuten (dabei bekomme ich immer feuchte Augen), dass es ihn schon lange nicht mehr auf Erden gegeben hätte, wenn es mich nicht gäbe.

Ich denke, hier geht es um Verantwortung und Verantwortungsbewusstsein. Wie heißt es so schön : Hat der Mensch einen guten Charakter, braucht er die Prinzipien nicht.

Aus dieser Geschichte kann man eigentlich viele Lehren ziehen. Dabei fällt mir ein, dass der ‘Große’ nicht ein einziges Mal von Diskriminierung sprach,  obwohl er eigentlich prädestiniert dafür war sich diskriminiert zu fühlen. Die Sprachbarriere verbaute ihm viel und machte ihn eigentlich zum Außenseiter. Das erkläre ich dadurch, dass sein Selbstbewusstsein stärker ist als sein Selbstmitleid. 😉

(*) ‘In die Hose’ gehen wurde oben im Türkischen wörtlich übersetzt, so als ob jemand in die Hose einsteigt.

Foto

Kaltstart X - Das Buch von Ahmet Refii Dener

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