Seit drei Jahren bin ich Polizeibeamter. Eigentlich bin ich Geschichtslehrer…

Seit drei Jahren bin ich Polizeibeamter. Eigentlich bin ich Geschichtslehrer, doch ich bekam ich keine freie Stelle zugewiesen. Damit ich überleben konnte, bin ich Polizeibeamter geworden. Jetzt muss ich meinen Dienst in Ost-Anatolien schieben.

Wenn ihr sehen würdet, wie es hier zugeht, würdet Ihr denken, dass ihr von den Menschen über den Haufen gerannt werdet.

Zur Polizeiwache gehe ich in Zivilkleidung hin und ziehe mich dort um. Wenn wir zu einem Einsatz gerufen werden, denke ich jedesmal: “Ist es eine Falle?” Egal, ich muss trotzdem hin.

Ich gehe auf der Straße und schaue immer wieder nach hinten, ob jemand hinter mir ist. Manchmal erwische ich mich dabei, wie ich mit meiner Hand meinen Nacken halte, für den Fall, dass ich eine Kugel von hinten eventuell mit de Hand abwehren kann.

Die Probleme, die den Osten der Türkei beherrschen, kann man nicht alle aufzählen. Es ist so heiß, dass ihr es euch nicht vorstellen könnt. Lege ich ein Huhn auf die Straße, dann kann ich es nach wenigen Minuten gebraten abholen. Meine Wohnung befindet sich auf der 3. Etage. Nur kann ich die Fenster nicht offenlassen, denn sonst könnte es mir genauso ergehen wie meinem Kollegen in Urfa, die im Schlaf erschossen wurden. So könnte ich allerdings vor Hitze sterben, was mir immer noch besser erscheint. An der Wand hängt ein Smiley und lächelt mich an, nur mir ist nicht danach.

Wenn ich meine Wohnung betrete, gehe ich erst einmal mit der Pistole in der Hand durch alle Räume. Auch schaue ich in die Schränke und unters Bett. Mit der Pistole in der Hand schlafe ich dann ein. Wenn ich morgens aufwache, schmunzle ich, wenn ich feststelle, dass ich die Pistole immer noch in der Hand halte. „Was für Zustände“ sage ich dann („Ne hale geldik lan“).

Früher war der Terror in den Bergen, jetzt ist er überall. Schämen sollen sich die, die es heraufbeschworen haben.

Wie kann man einen jungen Polizisten, der gerade mal vor zwei Wochen seinen Dienst angetreten hat, in den Osten schicken ? Welche Logik mag dahinter stecken?

Wenn du schon deinen Polizisten in den Osten schickst, warum gibst du ihm dann nicht eine spezielle Unterkunft ? Glaubt jetzt nicht, ich wäre ängstlich, weil ich so was von mir gebe. Ich bin nur vorsichtig. Ich möchte nicht für einen Bastard sterben und meine Mutter mit tränenden Augen zurücklassen. Ich möchte mich verlieben, heiraten und Vater werden und diesem Land nützliche Kinder* schenken.

Was denkt ihr, könnte das klappen?

Kann ich so lange am Leben bleiben?

Oder werden meine Träume halb geträumt zu Ende gehen?

Eigentlich möchte ich nicht sterben.

Ich möchte nicht das Opferlamm von gefühllosen Menschen werden, die diesen Terror heraufbeschworen haben.

Märtyrer sterben nicht heißt es. Für euch mag das so sein, aber fragt mal meine Mutter, wenn ich sterben sollte, ob Märtyrer sterben oder nicht?

Fragt das bitte meine Mutter, die mich jeden Tag anruft und bei jedem Fernsehbericht über einen toten Märtyrer (Şehit) ihn Ohnmacht fällt.

Okay, ich will es nicht noch mehr in die Länge ziehen. Mal schauen, wie lange ich noch der Handlanger von jemandem sein werde?

Ach so, das könnt ihr nicht wissen, weil die regierungsnahen Medien darüber nicht berichten. Es haben bereits sehr viele Polizisten den Dienst quittiert, ihr könnt es euch kaum vorstellen.

Wer weiß, möglicherweise werde auch ich in mein Dorf zurückkehren.

SOLLTE ICH STERBEN, DANN SOLL DER STAAT NICHT HOCHLEBEN. SEHT MIR DAS BITTE NACH (EĞER BEN ÖLÜRSEM VATAN SAĞOLMASIN KİMSE KUSURUMA BAKMASIN !)

*nützliche Kinder” ist der Standardspruch eines jeden Türken, wenn er über seine Kinderwünsche spricht. Kinder haben für das Land nützlich zu sein, ansonsten sind sie wertlos.  Wenn z.B. in der Türkei Eltern in Fernsehsendungen nebenher gefragt werden, wie viele Kinder sie haben, nennen sie Geschlecht und Zahl, und wenn das Alter der Kinder es erlaubt, den Namen der Schule, der Universitaet, den Abschluss, den Beruf…  es genügt nicht, die innere Zufriedenheit zum Ausdruck zu bringen, eigene Kinder großgezogen zu haben, man fühlt den Druck deutlich machen zu müssen, dass man dem Land “nützliche Kinder” geschenkt hat. Eigentlich haben “seine” Eltern in diesem Fall doch genau das gleiche getan… er ist Polizist… also nützlich…  MISSION COMPLETED, eigentlich… oder ist da vielleicht doch ein weiterer Aspekt, der wichtig ist, um Kinder zu zeugen, als deren “NUTZEN”.

ichmeinsgut.de : Das Originalschreiben (in Türkisch) ist aus dem Social-Media. Auch wenn er schon strafversetzt worden sein soll (60km weiter südöstlich) habe ich sein Foto dennoch mit Unschärfe versehen. Noch weitere 20km südlich und er ist in Syrien.

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