Curtis

Es war der 28. Oktober 1923, der Tag, an dem Mustafa Kemal seinen Freunden sagte: „Morgen werden wir die Republik ausrufen!“.

10.000 km von ihm entfernt, in den USA, im kleinen Städtchen Elmira, saß ein 10 jähriger Junge an der Schreibmaschine seines Vaters und haute voller Spannung auf die Tasten. Er schrieb ein Brief.

Zu Händen von Gazi Mustafa Kemal Pascha, Angora (spätere Ankara).

Ein Werk der bekannten Künstlerin Alea Pinar du Pre

Sehr verehrter Herr, ich bin ein zehnjähriger amerikanischer Junge und interessiere mich für die neue Regierung der Türkei. Ich habe über Sie und ihre Frau mehrere Reportagen gelesen. Ich habe eine Sammelmappe über die Türkei. Ich sammle Fotos von Ihnen und Ihrer Frau. Ich möchte Sie bitten, einem amerikanischen Jungen ein Foto von sich und eine Widmung zu schicken. Ich hoffe, dass ich eines Tages die Türkei sehen werde. Curtis LaFrance.

Das Schreiben vom 28. Oktober 1923 erreichte am 27. November 1923 Ankara. Mustafa Kemal hat den Brief gelesen und ging in sein Arbeitszimmer und antwortete.

„Republik Türkei, privat…

An Curtis LaFrance persönlich, Ankara

Ihr Schreiben habe ich erhalten. Ich möchte mich für Ihr Interesse an der türkischen Nation und Ihre guten Wünsche bedanken.

Anbei schicke ich Ihnen wunschgemäß ein Foto. Den strebsamen und klugen amerikanischen Jugendlichen kann ich nur empfehlen, nicht alles zu glauben, was sie über die Türkei lesen. Sie sollen recherchieren und sich dann eine Meinung bilden.

Ich wünsche Ihnen viel Erfolg im Leben, werden Sie glücklich.

Präsident der türkischen Republik, Gazi Mustafa Kemal.“

Der zehnjährige Curtis stammt der Familie vom französischen Aristokraten Lafayette, der den Amerikanern den Freiheitsgedanken einimpfte.

Lafayette kämpfte an der Seite von George Washington und erlangte den Ruf des Helden von zwei Welten.

Curtis entstammte einer solchen Familie und war mit dem Freiheitsgedanken großgeworden.  In seinem jungen Alter wusste er um die Wichtigkeit des Begriffes „Unabhängigkeit“.

Er las vom türkischen Befreiungskrieg, er las die Reportage in der The Saturday Evening Post mit Mustafa Kemal und begeisterte sich für ihn. Er war neugierig, wie die neugegründete Stadt Angora aussah. Ohne daran zu glauben, dass sein Brief ankommen würde, schrieb er ihn.

75 Jahre später.

Ganze 75 Jahre wusste die Türkei nichts von diesem Brief. Atatürk hatte es weder der amerikanischen Botschaft mitgeteilt, noch zu Werbezwecken für sich, der Presse mitgeteilt.  Er hatte lediglich einem zehnjährigen Jungen, in 10.000 km Entfernung, der seine ehrlichen Gefühle ihm schrieb, ehrlich geantwortet.

Curtis wurde erwachsen und wurde an der Yale Universität Maschinenbauingenieur.

Er reiste in die damalige Tschechoslowakei. Als er dort eine Ausbildung über slawische Sprachen bekam, brach der zweite Weltkrieg aus. Er musste in die USA zurückkehren.

Dort übernahm er das Familienunternehmen, gründete eine Fabrik und stellte die zur Kult gewordenen Lafayette Feuerwehrfahrzeuge her. Er exportierte weltweit, von Europa bis Afrika. Er war Förderer der Newport Kunstgalerie, dem historischen Museum, des Newport Musikfestivals, der Redwood Bibliothek u.a. Er wurde zum „Größten Förderer“ gewählt.

Als er 85 Jahre alt war, lernt er zufällig die in den USA lebende Türkin Saliha Sulander kennen. Die Unterhaltung vertiefte sich und dann kam das Wort auf Mustafa Kemal und seinem Brief an ihn. Frau Sulander konnte es kaum fassen. Nachher recherchierte sie, aber konnte nichts in Erfahrung bringen.

Eigentlich hatte das amerikanische American Life Magazin den Brief 1959, mit seiner Geschichte, veröffentlicht.

Nur damals wie heute hatten die türkischen Medien keine Ahnung, was auf der Welt passierte und bekamen es nicht mit.

Frau Sulander informierte den türkischen Botschafter, er wiederum informierte Ankara. Das Schreiben wurde begutachtet.

Weiter passierte aber nichts.

Dann im Jahre 1998 hat der damalige Ministerpräsident Ecevit Curtis LaFrance in die Türkei eingeladen.

Curtis kam mit seiner Tochter nach Ankara. „Ich weiß, dass es ein Ort Namens Polatli gibt, bevor das Staatsprotokoll beginnt, möchte ich bitte zuerst nach Polatli fahren.“ sagte er.

Man war verwundert und brachte ihn nach Polatli, unweit von Ankara. Die Geschichte um Polatli war, dass Curtis als er neu im Geschäftsleben war, vor 40 Jahren Feuerwehrfahrzeuge nach Polatli verkaufte. In Polatli angekommen, sah er diese immer noch im Einsatz.

Nach 1960 war er mehrmals in der Türkei gewesen. Er hatte schon Istanbul, Ankara und Izmir bereist. Machte eine Schiffstour durch die Ägäis und dem Mittelmeer. Auch am Mausoleum von Atatürk, der Mann, der ihn in seinem Schaffen inspirierte, war er und erwies ihm sein Ehr.

Diesmal war er vom Staat eingeladen worden. „Ich erlebe die bewegensten Momente meines Lebens“ sagte er, als den besagten Brief dem Anitkabir Museum, dem Mausoleum von Atatürk, der Türkei, schenkte.

Dort hat er auch eine kleine Rede gehalten: „Als ich 1938 vom Atatürks Tod erfuhr, war ich 25 Jahre alt, niemand hat verstanden, warum ich geweint hatte.“

Curtis starb 2012 im Alter von 99 Jahren.

Als ich diesen Beitrag von der Kolumne von Y. Özdil frei wiedergab und über Curtis LaFrance weitere Recherchen erstellte, hatte ich (ARDener) Tränen in den Augen, umso mehr, als ich erfuhr, dass der gute Curtis, am 10. November, am Todestag des Atatürk, friedlich entschlief.

Heute ist der 29. Oktober. Heute ist der Jahrestag der Gründung der türkischen Republik.

Traurig ist es schon, dass er die amerikanischen Kinder sogar inspirierte, aber die Türkei heute so tief gesunken ist, dass man im Land nicht mal die Einreisevisa für die USA ausgestellt bekommt.

Die heutige Türkei wird nicht regiert. Es geht um Strategien zum Machterhalt eines einzelnen. Es bleibt zu hoffen, dass der Geist aus den Zeiten Atatürks noch in dieser Nation irgendwo schlummert und irgendwann aufwacht.

American LaFrance (ALF) war ein Hersteller von Feuerwehr- und Rettungsfahrzeugen in Summerville, South Carolina, USA mit einer bis in das Jahr 1832 zurückreichenden Geschichte. Die eigentliche International Fire Engine Company wurde 1903 gegründet und im gleichen Jahr in American LaFrance Fire Engine Company umbenannt. Die Fertigungsanlagen wurden in Elmira, New York eingerichtet. 1929 fusionierte American LaFrance mit der Republic Motor Truck Company zu LaFrance-Republic. Zwischen 1995 und 2005 war American LaFrance ein Tochterunternehmen von Freightliner und damit auch von Daimler-Benz bzw. Daimler-Chrysler. 2005 wurde American LaFrance vom Investmentunternehmen Patriarch Partners übernommen.

Im Januar 2014 gab das Unternehmen bekannt, dass der Geschäftsbetrieb eingestellt wird. (wikipedia)

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