Türkei: Die Aussätzigen und Vergessenen

An die 200.000 Menschen in der Türkei sind vom Leben ausgeschlossen worden. Einige Zehntausend sitzen in den Gefängnissen ein und es werden täglich immer mehr. Nicht umsonst werden derzeit neue Gefängnisse mit einer Kapazität von 250.000 Häftlingen gebaut. Die Inhaftierten stehen alle unter Generalverdacht, ein Terrorist zu sein, oder eine terroristische Organisation zu unterstützen.

Ich möchte die Leidtragenden der Willküraktionen in zwei Gruppen unterteilen.

Die Aussätzigen sind die, die aus Staatsdienst entlassen wurden und die keinerlei Anspruch auf Gehalt, Rente und Entschädigung haben, bzw. haben werden. Hinzu kommt, dass sie auch nicht einer gewöhnlichen Arbeit nachgehen können. Wer diese Personen einstellt, steht ebenfalls unter Generalverdacht ein Terrorist zu sein, oder jemanden zu unterstützen, der eine terroristische Organisation unterstützt. Diese Menschen sind vom Leben ausgeschlossen. Wenn sie denn etwas von Wert besitzen, verkaufen sie dies und leben so lange davon bis das Geld verbraucht ist.

Dann gibt es welche, die von Anfang an auf die Unterstützung von der Verwandtschaft angewiesen sind, die zumeist ihrerseits nichts zum Leben haben. Gestern begegnete ich zufällig einem davon in Deutschland.

27 Jahre alt, Student aus Ankara. Er saß 8 Monate ein. Ohne Anklage. Warum er einsaß und warum er entlassen wurde, weiß er nicht. Mit ihm saßen sechs seiner Freunde ein, allesamt Studenten. Er vermutet, dass einer seiner Freunde mit den Gülenisten sympathisierte, nur denke ich, dass jeder der anderen fünf das auch dachte, dass einer der anderen damit zu tun hätte. Wenn ich etwas Menschenkenntnis habe, dann würde ich diesen jungen Mann von jeglichem Verdacht freisprechen. Er verrichtete Aushilfsjobs und finanzierte so sein Chemiestudium, bis nach dem Gefängnisaufenthalt auch das nicht mehr möglich war. Sein polizeiliches Führungszeugnis hatte irgendein Vermerk, dass er wie ein Aussätziger zu behandeln war und jeder der mit ihm Kontakt hat, ebenfalls so zu behandeln wäre. Ein Kreislauf, aus dem es kein Entrinnen gab. Was tun? Die Verwandten gaben ihm ca. dreitausend Euro und mit Schengen-Visa, vom griechischen Konsulat in Istanbul ausgestellt, war er nun in Deutschland angekommen. Das alles ist erst vier Tage her.

Die Vergessenen sitzen seit Monaten und Jahren ohne eine Anklage ein und da sie durch einen Willkürakt verhaftet wurden, können sie nur durch einen Willkürakt wieder freikommen. Wie der Student von oben.

Und während diese Aussätzigen und Vergessenen die darauf hoffen, irgendwann nur noch Aussätzige zu sein, und in ihrem Leben nie wieder arbeiten werden können solange Herr Erdogan und seine Seilschaften an der Macht sind, sind gleichzeitig auch die Angehörigen betroffen.

Auch bei diesen greift auf der Arbeitgeberseite der Selbstschutz und sie machen die Angehörigen auch zu Aussätzigen. Die Arbeitgeber schützen sich selber, indem sie jeden von einem Arbeitsplatz fernhalten, dem auch nur der Hauch eines Verdachts anhaften könnte, ein Terrorist, also lediglich ein Andersdenkender mit gesundem Menschenverstand zu sein. Die Türkei bleibt ein Pulverfass.

Die Massen leiden und schweigen.

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