Über den Anachronismus der Türkei – Meine Kolumne aus dem TAGESSPIEGEL

In den siebziger Jahren reiste Hans, unser Freund aus Köln, mit uns in den Sommerferien in die Türkei. Als die Maschine in Istanbul aufsetzte, fiel der Strom aus. Falls es ein Notstromaggregat gab, sprang es nicht sofort an. Was passiert wäre, wenn der Strom einige Sekunden früher ausgefallen wäre… Zu Fuß gingen wir ins Flughafengebäude, doch vorher sollten wir unsere Koffer übernehmen – direkt aus der Maschine. Die Koffer im Scheinwerferlicht der Autos zu finden machte uns Kindern Spaß. Bekanntlich kam damals niemand auf die Idee, Räder unter die Koffer zu montieren. Also mussten wir unsere Gepäckstücke hinter uns her schleifen oder tragen. Hans war schon vorher still, nun war er kreidebleich und still.

Mein Onkel holte uns am Flughafen ab. Die Sonne ging auf, während wir über die Uferstraße Richtung Bosporus-Brücke fuhren, die einige Monate zuvor – im Oktober 1973 – eröffnet wurde. Früher mussten wir einige Stunden in der Autoschlange auf die Fähre warten, um auf die anatolische Seite zu kommen. Mein Onkel war Arzt und hatte, wie im damaligen Istanbul üblich, eine große Wohnung. Hans’ stummes Staunen wurde immer größer: Die Türken wohnten nicht in Zelten und hatten moderne Möbel im Haus. Als ihm dann noch ein üppiges, türkisches Frühstück aufgetischt wurde – wozu damals, mehr oder weniger, jeder in der Lage war -, bekam er zumindest etwas Farbe im Gesicht.

Man merkte, dass die grauen Zellen in seinem Kopf rotierten. Nach dem Frühstück holte uns mein Großvater, der immer den neuesten Opel Rekord fuhr, bei meinem Onkel ab und brachte uns in sein Haus. Eigentlich lebte er in Ankara. Wo er hinschaute, sah Hans Menschen mit klarem Blick, offen für alles. Und dass sie gebildet waren, konnte man ihnen sogar ansehen, sagte er später über seine Reise in die Türkei.

Vor Kurzem, 44 Jahren nach seiner ersten Reise, landete Hans wieder in Istanbul und stellte fest, dass die Zeit in den mehr als vier Jahrzehnten auch in der Türkei nicht stehengeblieben war. Alle technischen Errungenschaften der Moderne seien in den Metropolen vorhanden, nur die Menschen, ja die Menschen hätten sich zurückentwickelt, bemerkte er. Der klare Blick und die Offenheit von einst wären ihm nicht mehr begegnet. Und das Straßenbild sei, was die Menschen angehe, rückständiger geworden.

Stimmt.

TAGESSPIEGEL, Kultur, Weltspiegel, von Ahmet Refii Dener, Sonntag 30. 12. 2018

Foto: National Geographic

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