Straßenverkäufer 2.0

Straßenverkäufer im Stadtteil Tarlabaşı-Istanbul

Als ich das Foto mit dem Straßenverkäufer heute fand, erinnerte ich mich an eine Begebenheit in Istanbul. Es gibt sehr viele Straßenverkäufer, die ihr Business auf Rädern immer vor sich her schieben. Eigentlich ist diese Art des Verkaufens auf der Straße verboten, aber es geht ums Überleben, da nimmt man das Risiko, dass man erwischt wird und sein Auskommen von nun auf jetzt verliert, auf sich.

Immer wenn ich geschäftlich in Istanbul unterwegs war und mich auf der anatolischen Seite einquartieren wollte, wählte ich  das “Rıhtım Otel” , direkt an der Hafenstraße in Kadıköy. Jetzt hört sich das was ich schreibe so an als wäre ich ein Influencer, aber keine Angst, so ein Hotel würde den Sinn dahinter gar nicht verstehen und mich dafür bezahlen. Der Eigentümer ist ein netter alter Herr, der Vögel sehr mag. Im ganzen Hotel zwitschern die Vögel und die meisten davon hat er oben auf der überdachten Dachterrasse, wo der Frühstücksraum ist. Auch wenn es eine Drei-Sterne-Herberge ist, so ist das Panorama fünf Sterne. Der Bosporus in seiner vollsten Pracht liegt Euch zu Füßen. Da, gegenüber die  Blaue Moschee,  die Hagia Sophia, der  Topkapi Palast, der Containerhafen und der Hauptbahnhof Haydarpascha und wenn man direkt nach unten schaut, die Betriebsamkeit des Stadtteils Kadıköy. Als eines Nachts, in der August Hitze,  die Klimaanlage versagte, musste ich das Fenster aufmachen. Jetzt merkte ich, welche Geräuschkulisse  auf der Straße herrschte.  Gegen drei Uhr in der Nacht gab ich die Hoffnung auf, dass es leiser werden würde. Nein, zwar waren die Menschenmassen nicht mehr auf der Straße, aber andere Geräuschemacher waren dennoch da. Taxi und Sammeltaxifahrer reparierten ihre Fahrzeuge, oder reinigten sie in der Zeit, als sie auf Kundschaft warteten. Dann sagte einer “wenn ich in der großen Staatslotterie (Milli Piyango) bei der Silvesterziehung gewinne”, also vier Monate später, “kaufe ich mir eine Mercedes-Limousine und verkaufe dann vom Kofferraum aus”. So tot müde wie ich war, musste ich dennoch aufstehen und schauen, wer den Spruch losgelassen hatte. Es war ein Straßenverkäufer, der Obst verkaufte. Wenn er also die Millionen gewinnen würde, würde er nicht aufhören zu arbeiten, nein, er würde der Vorreiter des Straßenverkaufs 2.0 werden und vom Kofferraum einer Mercedes-Limousine aus sein Obst verkaufen. Sicher ein Bild für die Götter und das Social-Media.

Meine Neugier war gestillt. So legte ich mich um 4:30 Uhr hin und startete einen neuerlichen Versuch, endlich mal etwas Schlaf zu bekommen. Dann bohrte sich eine andere Frage in mein Kopf rein. Was machte der Straßenverkäufer die ganze Nacht auf der Straße. Konnte man in der Nacht Umsatz machen? Ich schrieb die Nacht als ‘Verloren’ ab, zog mich an und ging runter. Ich holte mir noch zwei Sesamringe, einen für mich, den  anderen  für den Straßenverkäufer und ging auf ihn zu. Wir unterhielten uns über ihn, über seine Geschäfte und überhaupt über so ziemlich alles. Ich erfuhr, dass sein Wägelchen eigentlich ein Familienunternehmen war. Sein Bruder und er teilten sich den Tag und jeder von ihnen arbeitete 12 Stunden. 7/24 und 24/365 waren sie unterwegs. In den letzten acht Monaten wurde sein Wägelchen vom Ordnungsamt beschlagnahmt. Er holte sich immer wieder einen neuen Wagen und machte weiter. Klar, dass so ein geschäftstüchtiger Mann, nicht aufhören würde, wenn er ein Mercedes besäße. Die Türken sind geschäftstüchtige Menschen. In die Selbständigkeit zu gehen ist der Traum eines jeden Türken. Kann man das als Deutscher überhaupt verstehen?

Kaltstart X - Das Buch von Ahmet Refii Dener

Das könnte dich auch interessieren …