Şaşkınbakkal – „Der depperte Tante-Emma-Laden-Besitzer“

Der depperte Tante-Emma-Laden-Besitzer – Der Name eines Stadtteils von Istanbul, Şaşkınbakkal (wird Schaschk’n Backkal) ausgesprochen, ist ein Viertel auf der asiatischen Seite von Istanbul im Stadtteil Kadiköy. Mitten hindurch führt eine Prachtstraße, auch einfach „Die Straße” genannt, die Bagdad-Straße. Ich denke, das Schönste, was man mit dem Namen Bagdad in Verbindung bringen kann, werdet Ihr hier sehen, angefangen von den Menschen, bis hin zu den tollen Läden auf beiden Seiten der fast 14 km langen Straße. Ihren Namen verdankt sie den osmanischen Truppen, die vor Jahrhunderten auf dem Weg zur Eroberung Bagdads über diese Straße losgezogen sein sollen. Nun gut, im Rahmen der Urbanen Transformation* (70 % der Bauten in Istanbul sollen abgerissen und neu gebaut werden), gleicht es seit einigen Jahren einer großen Baustelle, aber wird schon werden. Die Straße bleibt “Die Straße” und das im neuen Glanz.

Kommen wir zum Namen des Ortsteils. Şaşkınbakkal bedeutet übersetzt „Der depperte Tante-Emma-Laden-Besitzer“. Der Name wird einfach so ausgesprochen, ohne dass man sich fragt, wie ein Stadtteil zu solch einem ulkigen Namen kommen kann. Es passierte im Jahr 1932. Damals sah die Straße wie auf dem Foto unten aus.

Bagdat Caddesi (Straße) 1932

Die eine Straßenbahnlinie ist die einzige Verbindung zu den anderen Stadtteilen. Genau da, wo die Straßenbahn hält, ist heute ein Marks&Spencer-Kaufhaus und in Blickrichtung ca. 800 Meter weiter, bin ich auf die Welt gekommen. Hätte es die Häuser 1932 schon gegeben, hätte ich die Häuser von 80% meiner Verwandtschaft, auf diesem einen Foto festgehalten. Übrigens im Umkreis von Kilometern werdet ihr heute keinen Quadratmeter an unbebautem Grund entdecken.

Der Laden von Ahmet Kosar

Kehren wir zum Jahr 1932 zurück. Mein Namensvetter Ahmet Koşar stellt einige Obstkisten nebeneinander und fängt an, dort Obst und Gemüse zu verkaufen. Ein riesiges Feld und mitten drin der Koşar mit seinem Verkaufsstand. Da eines seiner Beine kürzer ist, humpelt er und wird deshalb „Humpel Ahmet“ genannt. Er soll sehr fleißig und immer in Bewegung gewesen sein, erzählt sein Enkel. Als dann das Nachnamengesetz kam bekam er 1937 den Nachnamen „Koşar“, was „Der Laufende“ bedeutet. Mit seiner ganzen Art soll er so anders gewesen sein, dass die Bewohner der Gegend ihn für den klügsten Mann der Welt hielten. Dennoch sagten sie ihm, dass ein Laden mitten auf dem Feld nicht funktionieren könne, und fragten ihn, ob er denn deppert wäre. Der Ansatz zum Ortsteilnamen war somit geboren: Şaşkın Bakkal, der depperte Tante-Emma-Laden-Besitzer, der nicht weiß was er tut. Wo er doch angeblich der klügste Mann der Welt war? Das kam wahrscheinlich einige Jahre später, als sein Stadtteil sich enorm entwickelte.

Damals gab es in der Gegend nur Sommerhäuser und -residenzen von Istanbulern. Immer wenn die Sommerferien dran waren, kamen sie hierher und verbrachten dort mit Blick auf die Prinzeninseln ihre Ferien. Sie kamen aber nicht von weit hierher, sondern lediglich von der europäischen Seite von Istanbul. Die ersten, die den Laden sahen, fragten sich „Was will der hier mitten auf dem Feld?” doch sie kauften dennoch bei ihm ein. Schon damals gab es wohl unweit von seinem Laden das Erenköy Mädchengymnasium, wo meine Mutter ihr Abitur machte. „Der Depperte” und sein Laden gewinnen mit jedem weiteren Haus und jedem weiteren Zuzug immer mehr an Bedeutung. Damit man eine Vorstellung hat, wie gut seine Geschäfte liefen, muss man nur wissen, dass er zu seiner besten Zeit 22-23 Personen beschäftigte, eigentlich den ersten Supermarkt der Türkei besaß. Ohne es zu bemerken, nennt die Stadtbevölkerung den Stadtteil ‘Şaşkınbakkal’. Der Laden soll übrigens lange Jahre der einzige Laden gewesen sein, in dem ein Telefon vorhanden war. Zu einer Zeit, in der nur die wenigsten ein eigenes Telefon bei sich zu Hause hatten, war dies natürlich ein zusätzlicher Umsatzbringer. Fast wäre der Name „Şaşkınbakkal“ vom „telefonlu manav“ überholt worden, was „Der Obstverkäufer mit Telefon“ bedeutet. Ahmet Koşar verdient mit seinem Startup, klingt lustig für die damalige Zeit, so viel Geld, dass er seinen Laden abreißt und ein neues Gebäude an gleicher Stelle erbaut. Die Alten Leute von damals, die ich noch in den 80er Jahren kennenlernen dürfte, erzählten, dass er in der Bauphase in einem riesigen, Zirkus ähnlichen Zelt weiter seine Kundschaft bediente. Er bringt auch das erste Kino in die Gegend. Das Atlantik Sinemasi gibt es heute noch. Dort habe ich meinen ersten Kinobesuch gehabt als Kind. 

Für seinen Enkel steht fest, das der Bezirk Suadiye, wo ich das erste Vapiano Restaurant (1.000 qm) der Türkei für die deutsche Zentrale in 2006 aufgebaut und eröffnet hatte, mit dem Viertel Şaşkınbakkal, deshalb als das modernste Stadtteil von Istanbul gilt, weil sein Großvater mit seinen Visionen hier wirkte.

Ahmet Koşar war so in Aktion, dass er mit 52 Jahren dem Leben davonlief. Der bekannte türkische Sänger schrieb sogar einen Song für ihn. „Herr Ahmets Sakko“ heißt der Song. Der Sänger Barış Manço lebte als Kind eine Zeit lang im Stadtteil Şaşkınbakkal und kannte die Geschichte um Ahmet Kosar, der sich nicht wie alle anderen kleidete, sondern privat wie auch bei der Arbeit immer ein Sakko trug.

Ahmet Kosar, Der depperte Tante-Emma-Laden Besitzer, gab dem Stadtteil Şaşkınbakkal den Namen. Heute ist der Stadtteil bekannt für das Moderne und die höchsten Immobilienpreise in Istanbul.

Ein toller Typ mein Namensvetter. Wer kann sich schon mit einem Stadtteilnamen verewigen? Er hatte es sich aber redlich verdient, wie ich meine.

(*) Urbane Transformation: Eigentlich soll für die Menschen ein neu definierter Lebensraum entstehen. Städteplaner sind gefragt. In den türkischen Metropolen wird aber eher eine Gebäude-Transformation durchgeführt. Das alte, ohne Baugenehmigungen oder unter Missachtung der Bauvorschriften gebaute Gebäude abreißen (das sollen mind. 70% der Bauten in der Türkei sein) und ein noch höheres, mehrstöckiges dort aufbauen.

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