Ich wusste, dass das Coronavirus an mir vorbeiziehen würde. Dachte ich zumindest.

Ich dachte zu Zeiten von Corona, dass ich in einer Parallelwelt lebe. Obwohl ich über ein riesiges Netzwerk verfüge, kannte ich keinen einzigen, der an dem Coronavirus infiziert war. Als ich mal ambulant im Krankenhaus zu tun hatte, verlief dort alles ruhig und die Notaufnahme war leer. Also hatte ich genug Ansätze um das Corona-Virus herunterzuspielen. Dann ereilte mich die Nachricht, dass mein geliebter Onkel väterlicherseits in Ankara an Covid-19 verstorben ist. Schockstarre!

Nun gut, er war ein sog. Risikokandidat und es fing, wie ich im Nachhinein von seiner Familie erfuhr, mit den Symptomen einer Erkältung an und am Ende versagten die meisten Organ, was letztendlich zu seinem Tode führte. In dieser Zeit musste seine Familie selbst um ihn kämpfen. Blutkonserven der Blutgruppe Rh 0- gab es in dem Krankenhaus nicht. Ein Aufruf am Sonntag brachte zwar schnell einige hundert Blutspendenwillige zusammen, zumal er wohl der beliebteste Professor seiner Studenten und Ex-Studenten war, doch mussten diejenigen erst einmal eine Sonderausgangserlaubnis einholen, um helfen zu können, da für den Tag Quarantäne galt. Ob das zu spät eintreffende Blut der Grund war, werden wir wohl besonders in einem Land wie der Türkei, wo die Wahrheit unter ferner liefen läuft, niemals wissen.

In mir brannte es, den mein Großvater, der andere Professor der Familie, der Große (weil er für die Türkei mehr Gutes tat), war ebenfalls an den Unwägbarkeiten eines türkischen Krankenhauses gestorben. Nach einer Darm-OP war er wieder gesund und sollte zwei Tage später entlassen werden, doch dann ereilte uns die Nachricht, dass er durch eine nicht-sterile Spritze sich die Gelbsucht eingefangen habe. Nicht er, sondern sein Sarg verließ wenige Tage später das Krankenhaus. Zur Rechenschaft wurde niemand gezogen. So ist das in der Türkei, die Geschehnisse werden in den Ordner „Schicksal“ abgelegt und schon geht es weiter.

Dieser Tage werde ich oft gefragt: „Was hälts du von den Corona-Informationen aus der Türkei?“ Soll ich sagen, was ich davon halte?

“Hallo Beerdigung!”

Bevor ich erzähle, wer genau gestorben ist, erwähne ich kurz die Prozedur, wie er beerdigt wurde. Normalerweise wird man in der Türkei binnen weniger Stunden abgefertigt und fürs jenseits eingecheckt. Schon bist du unter der Erde. Ein System, das tadellos funktioniert und wo die AKP-Regierung Punkte sammelt. Als ich meinen Vater damals beerdigte, musste ich staunen, wie glatt alles ablief und mir die Arbeit bei der Abwicklung gänzlich von den staatlichen und städtischen Behörden abgenommen wurde. Es gibt sogar eine Telefonnummer „Alo Cenaze“ (Hallo Beerdigung), die einem absolut unbürokratisch hilft. Man darf nicht vergessen, dass über vielen Friedhofeingängen zudem der einladende Spruch steht „Jeder Mensch wird den Tod „kosten“, d. h. spätestens einmal im Leben werden wir zu einem Feinschmecker.

Bei Corona läuft dies allerdings anders.

Es gibt spezielle Personen, die ausschließlich Corona-Patienten beerdigen, von denen es in der Türkei angeblich nur kaum welche gibt. So war mein Onkel in Ankara erst drei Tage nach seinem Tod dran. Bis auf einen Geistlichen und zwei Helfer mussten wohl alle dem Begräbnis fernbleiben, erzählten meine Tante und Cousinen mir. Wie bei meinem Großvater, wäre es ansonsten sicher ein Begräbnis mit einigen Tausend Trauernden gewesen, aber nichts von alledem. Selbst die Familienmitglieder saßen daheim und trauerten vor sich hin. Corona-Zeiten halt!

Bildung war für ihn eine Herzenssache 

Wie Watte (Pamuk), bezogen auf seine Herzwärme gegenüber seinen Studenten, ein gutherziger Riese, einer der durch seine Güte und Nähe für Respekt sorgte, ein Mann mit reinem Herzen… So fangen die Beschreibungen seiner ehemaligen Studenten an, wenn sie zu seinen Lebzeiten und jetzt nach seinem Tod über ihn auf den Plattformen der Universitäten schrieben bzw. schreiben, an denen mein Onkel gelehrt hat.

Tausende weinen nicht nur virtuell, dass spürt man förmlich. Was für Geschichten und Anekdoten über ihn im Internet stehen, ich bin dankbar, dass ihn die Menschen nach seinem Ableben, hochleben lassen. Ich glaube, es ginge auch nicht anders, einer der die Menschen auf ihrem Lebensweg entscheidend berührt und gelenkt hat.

Hier einige Texte von ehem. StudentenInnen:

„Wir haben unseren kostbaren Lehrer verloren. Er hat mir sehr geholfen. Ich habe viel gelernt von ihm. Ich stand kurz vor der Abschlussprüfung und musste mich mit ihm treffen und meine Diplomarbeit feinabstimmen. Ich musste von Eskisehir nach Ankara (235 km) und konnte nicht. Dann klingelte bei mir das Telefon. „Ich habe mein Ticket schon geholt, ich komme zu dir.“ Ich war beschämt, ein Professor machte sich auf dem Weg zu mir, um mir zu helfen. Ich wollte ihn davon abbringen, woraufhin er sagte: „Was haben wir sonst zu tun, wenn nicht dies. Ich bin zum Lehren da, also tue ich das. Die Zeit habe ich heute.“ Er kam, wir sprachen ca. 2 Stunden und schon fuhr er wieder zurück. Da er mit dem Bus da war, waren das über drei Stunden Fahrt, nur einfache Strecke. Ich habe viele Lehren daraus gezogen, auch durch die Jahre. Ich bin dankbar, dass ich ihm begegnet bin.“

NASIL BİLİRDİNİZ?: İYİ BİLİRDİK!

UNSER LEHRER PROF. DR. HASAN IŞIN DENER IST VERSTORBEN!

Es gibt so manche Menschen, die sind einfach für jeden gut. Wenn man Ihnen ins Gesicht blickt, sieht man quasi ihren Heiligenschein! Lehrer Hasan war ein solcher. Mit seinem knuffigen Aussehen, seinen weißen Haaren, seiner großen Brille hatte er Verständnis für all unsere Verhaltensweisen, jederzeit mit einer väterlichen Art jegliches schelmische Verhalten unsererseits zu decken.

Bei ihm hatten wir während unserer Ausbildungsjahre an der Hacettepe-Uni das Fach Statistik. Bei den Tests ließ er uns Buch und Heft benutzen und dennoch waren seine Tests die schwierigsten. Niemand wagte es, abzuschreiben, und gleichzeitig war es sein Fach, in dem wir am meisten lernten. Denn es war niemals sein Ziel, Zeit für Nebensächliches zu vergeuden, er konzentrierte sich auf das, was wichtig war.

Seinen Familiennamen hatte sein Großvater damals von Atatürk selbst erhalten, da dieser damals einer der angesehensten Physiker des Landes war (Dener geht auf das Verb „denemek“ zurück, was „experimentieren“ bedeutet). Seine Mutter war damals mit 26 Jahren, die jüngste weibliche Lehrkraft der Türkei. Einer wahren Akademikerfamilie entspringend, absolvierte auch er eine sehr erfolgreiche Hochschul- und Berufskarriere und war ein Wissenschaftler und Intellektueller, der in vielen Bereichen tätig war.

Die Jahre vergingen. Wir glauben immer, dass die, die wir zurücklassen, dort bleiben, wo wir sie zurücklassen. Doch dem ist nicht so! Eine Seuche kommt auf, wir können niemanden sehen, der Tod kommt an einen heran, die, die wir kennen, verlieren ihre Bedeutung und es wird so, als ob wir sie nie gekannt hätten. Wir können nicht zu seiner Beerdigung. Wir können nicht zu seinem Totengebet, bei dem der Imam fragt „Wie war der Verstorbene“  und wir mit einem ehrfürchtigen und ehrlichen „Er war ein guter Mensch“ antworten.

Plötzlich kommt der Augenblick, in dem man hinterfragt, was wichtig ist und was nicht. Denn man merkt, dass man in diesem gnadenlos hektischen Leben das Wesentliche, diese ungeformte Liebe, die Werte, die Seele vergessen hat!

Gesegnet seien alle, die den Sinn ihres Lebens finden und mit diesem leben, und dem Leben anderer die gleiche Bedeutung schenken, wie sich selbst. Eigentlich sind diese Menschen immer lebendig! Als Tropfen werden sie Teil eines Stromes, der ewig weiterfließt!

Unser Lehrer Hasan ist heute Nachmittag zu Gott gegangen. Möge er in Frieden ruhen! Seiner Familie und allen, die in Leben viel Kraft und Beileid.

Auch wenn wir es nicht im Rahmen des Totengebets rufen können, “Hasan Hoca WAR EIN GUTER MENSCH!”Wir rufen sowohl mit Worten als auch mit dem ganzen Herzen, wo wir uns auch befinden, aus dem Innersten “ER WAR EIN GUTER MENSCH!”

Ruhe in Frieden Onkel, du hast dich selber unsterblich gemacht!

Wer in Türkisch weiterlesen möchte, bitte diesem Link folgen.

Kaltstart X - Das Buch von Ahmet Refii Dener

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