Allwissend, ständig im Dialog und schmerzfrei dazu

Meine TAGESSPIEGEL Kolumne von heute. Übers Reden, Reden und dann übers Reden.

Irgendwo in der Türkei hat die Tochter – kann auch der Sohn gewesen sein – die Wohnung verlassen und ist einige Schritte gegangen. Es muss vor dem Coronavirus gewesen sein, denn wer jünger als 20 ist, darf genau wie die über 65-Jährigen nicht vor die Tür. Wenige Schritte also – schon klingelt das Handy. Natürlich das neueste und heißeste Modell. Auf dem Display: die Mutter. Von der das Kind sich vor knapp zwei Minuten verabschiedet hat. Sie fragt: „Und? Wie geht es dir? Was machst du so?“ Eigentlich müsste die Antwort lauten: „Das weißt du doch, ich bin auf dem Weg zur Schule.“ Aber nein. Zuerst fragt das Kind die Mutter zurück, wie es ihr denn so geht, und sie fangen ein so langes Gespräch über Belanglosigkeiten an, dass das Kind nach einer halben Stunde im Bus vor der Schule ankommt und sagt: „Ich muss auflegen, wir reden weiter, wenn ich wieder zu Hause bin.“

Damals, als ich in die Türkei zog, fiel es mir sofort auf: Die Menschen erzählen gerne. Das fing schon am Flughafen Köln-Bonn an, beim Einchecken Richtung Istanbul. Die Maschine hatte etwas Verspätung und was machen die Fluggäste? Sie starren in die Gegend und seufzen im Minutentakt. In diesem Moment zieht auf dem Rollfeld eine Maschine der Turkish Airlines vorbei. Nationalgefühle werden wach, einer sagt: „Die Turkish Airlines ist die weltgrößte Fluggesellschaft.“ Im nächsten Moment bekommst du den Eindruck, alle Wartenden wären miteinander verwandt. Vergleiche fliegen durch die Luft: „Die sind sogar elfmal größer als die Lufthansa.“ Wenn ihr jetzt fragt, warum gerade elfmal? Weil elf realitätsnaher klingt als zehn. Das hat der Türke von der Regierung gelernt. Schon vor fünfzehn Jahren rühmte sich die AKP-Regierung – nach drei Jahren Amt -, in kurzer Zeit 4723025300411 Bäume gepflanzt zu haben. Am liebsten hätten sie die Zahl hinterm Komma fortgesetzt, nur wäre das vielleicht jemandem aufgefallen …

Am Flughafen merkten wir indessen gar nicht, dass die Verspätung schon eine Stunde währte, denn in der Zwischenzeit hatten wir erfahren, dass Turkish Airlines kurz davor stand, die Lufthansa zu übernehmen. Fast konnte man dabei zuschauen, wie stolz die Menschen waren. Wie sollte es auch anders sein: Wo man auch hinschaute – überall sah man Lufthansa-Maschinen! Und das alles sollte einmal der Turkish Airlines gehören? Zum Glück durften wir dann einsteigen. Sonst wären möglicherweise auch die anderen Fluggesellschaften von der Turkish Airlines geschluckt worden.

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