Türkei: Berufsberatung 2.0 – Die Beraterin nahm mir die Luft weg

Eigentlich sollen die Lotsenlehrer in der Türkei bei der Berufswahl helfen. Manche haben ihren Beruf verfehlt.
Wer Bildung erworben hat, weiß nicht automatisch, was er damit anfangen soll. Das gilt nicht nur in der Türkei.
Wisst ihr, wie die türkischen Jugendlichen in der Türkei ihre Berufswahl treffen? Ganz eigenartig. In den türkischen Schulen gibt es sogenannte Lotsenlehrer. Ich bin Gründungsmitglied des Vereins, der die Waldorf-Pädagogik in der Türkei einführte und heute die erste Waldorfschule in Alanya betreibt. Folglich bin ich in Bildungsfragen der Türkei involviert.
Um die Berufsberatung in der Türkei zu erleben, begleitete ich die Tochter eines Freundes, auf Wunsch der Eltern hin, zur Lotsenlehrerin. Sie, Selma, ist eine sehr gescheite Schülerin, die nach dem Abschluss des Gymnasiums bei der im ganzen Land durchgeführten Aufnahmeprüfung zur Universität eine der höchsten Punktzahlen erreichte. Folglich standen ihr alle Türen weit offen.
Keinerlei Interessen? Das wird schwierig.
Ich hatte sie vorher gefragt, welche Interessen sie mitbringt. „Eigentlich nichts. Ich gehe zum Beispiel gerne einkaufen“, sagte sie. Ich musste schlucken: Hohe Punktzahl für die Uni und keinerlei Interessen! Schon standen wir vor der Tür der Lotsenlehrerin, die ihr Büro im Schulgebäude hatte und den ganzen Tag nichts anderes zu tun hatte, die SchülerInnen zu lotsen. Viel Arbeit musste sie nicht bewältigen, wie ich von meinem Sohn wusste, der auch auf dieser Schule war. Nur zur Abitur hin, wenn die Frage der Berufswahl anstand, erfuhr sie Aufmerksamkeit. So, wie waren da. Klopften an und gingen rein. Sie kannte mich genauso, wie die Selma, die eine der besten Schülerinnen der Schule war. Sie schaute auf das amtliche Papier, die wir ihr rüber reichten und sah die Punktzahl, die Selma erreicht hatte und sagte: „Gratulation, du kannst selber entscheiden, was du studieren möchtest.“ Eine erste ganz tolle Feststellung, zumal die ganze Sippschaft von Selma dieses ergiebig gefeiert hatte.
„Was möchtest du denn werden?“ #
„Ich möchte mich beraten lassen. Ich gehe gerne einkaufen und schwimmen.“ „Nein, nicht dein Hobby, ich meinte berufsmäßig.“ Schulterzucken. „Wie ist es mit Architektin? Oder lieber Zahnärztin? Im türkisch-zypriotische Teil kannst du Zahnarzt studieren. Die Diplome von dort werden zwar in der Türkei nicht überall anerkannt, aber immerhin hast du dann einen Beruf“. Ein Beruf den man nicht ausüben kann, weil ihr Diplom nicht anerkannt ist. Wahrlich eine starke Empfehlung. Als hätten die Eltern von Selma gewusst, was mich hier erwartete.
„Weiß nicht!“ war die Reaktion von Selma. Ich glaube in ihrem Alter und ihrer Unerfahrenheit und nach der verwirrenden Art der Lotsenlehrerin, hätte ich etwas ähnliches gesagt. Die Lotsin drehte sich zu mir und fragte: „Was meinen Sie?“ „Ich wundere mich nur, wie sie vorgehen.“ „Wieso?“ „Das soll Berufsberatung sein? Eher ist das eine Kleideranprobe. Mal schauen, welches Kleid dir steht.“
Richterin unter Erdogan? Wahrlich eine lustige Idee.
Danach bohrte die Lotsenlehrerin tiefer. „Was ist mit Rechtsanwältin? Du kannst später auch Richterin werden.“ Richterin unter Erdogan? „Hören Sie mal, wie lange soll das noch so weitergehen? Geben Sie ihr am besten eine Liste mit Berufen und sie kreuzt etwas an!“ Meine Hoffnung, dass sie sich aufregen und mir entsprechend antworten könnte, dass ich etwas Luft ablassen kann, blieb mir verwehrt. Sie tat so, als hätte sie mich nicht gehört. „Was ist mit Atom? Du kannst Atom studieren in Antalya“, sagte sie. Wieder einmal der Ansatz für mich, etwas Luft abzulassen. „So ein Fach gibt es doch gar nicht, was erzählen sie da?“ Erklärend muss ich noch erwähnen, dass mein Sohn und die Tochter der Lotsenlehrerin Klassenkameraden waren. So musste ich mich, zum Wohle meines Sohnes, zwangsläufig etwas zurückhalten, mit den kleinen Explosionen.
Ein Atom-Studium gibt es zwar nicht, aber eine Kernspaltung, die fand in dem Augenblick bei mir statt. Wir sind aufgestanden und gegangen. Was sie nun studiert? Richterin, nein, natürlich Jura. Da ihr Vater aber ein AKP-Mann ist, wird sie sicher von der Schule direkt ins Richterinnenamt gelangen. Diese Geschichte hat sich vor knapp sechs Jahren abgespielt. Selma ist mittlerweile Physiotherapeutin geworden. Nebenher besitzt sie ein Bistro in Alanya und ist sogar, von der Ausbildung aus, direkt Physiotherapeutin des örtlichen Erstligisten der höchsten Fußballliga, Alanyaspor geworden. Dass sie im Beruf von null auf eins schoss, hatte auch den Grund darin, dass ich ihr ein einjähriges Praktikum in Deutschland organisiert hatte. Sie war bei einem der berühmtesten Sportärzten in Praktikum. Ich weiß nicht, ob die Mannschaft so erfolgreich ist dieses Jahr, weil sie dort wirkt. Jedenfalls ist sie die einzige Physiotherapeutin der höchsten Fußballliga der Türkei.
Eigentlich müssten sie zu der Lotsenlehrerin gehen und sich bedanken, weil sie so gut beraten wurde. 🙂