Jetzt ist aber genug! Covid19 Impfstoff und die kochenden Gemüter

In den sozialen Medien ist ein Kampf entbrannt. Die Erfinder des Impfstoffes sind Deutsch-Türken, Türken, Deutsche, Aleviten, usw. Jeder für sich möchte diesen Erfolg seiner Nationalität, Religion, Ethnie, Ideologie zuordnen. Leider scheint es dagegen keinen Impfstoff zu geben. Mir ist egal, wer den Impfstoff erfunden hat. Hauptsache wir haben was davon. Mein Anteil an dieser Erfindung steckt in den Fördergeldern der Bundesregierung, mehr Anteil daran habe ich nicht. Dann sollte man Bedenken, dass die Firma Pfizer ca. 97.000 Mitarbeiter hat, wie viele kluge Köpfe Biontech hat, weiß ich nicht, aber es sind Menschen, die aus verschiedenen Ländern und Religionen kommen. Wo ist das Problem?
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Hier ist ein toller Gastbeitrag von Caner Aver dazu:
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Der #Migrationshintergrund der Impfstoffentwickler Ugur Sahin und Özlem Türeci von #Biontech ist bezeichnend für die zunehmende Bedeutung von identitätsbestimmenden Merkmalen wie u.a. #Nationalität, #Herkunft oder #Religion in den Debatten. Sie zeigt das enge Korsett eines entlang von Nationalismen determinierten Weltbildes der Debattierenden sowohl in Deutschland als auch in der Türkei.
In der #Türkei wird gradlinig von türkischen #Wissenschaftlern in #Deutschland gesprochen und der Anteil „Deutschlands“ gerne ausgelassen. Das deutsche Bildungssystem benachteiligt nach wie vor Kinder mit Migrationshintergrund und aus Arbeiterfamilien – und Sahin war beides – doch glücklicherweise gab es eine unterstützende deutsche Oma im schulischen Werdegang, von der auch viele Einwandererkinder berichten. “Mein Lehrer wollte, dass ich auf die Hauptschule gehe. Erst durch das Einschreiten meines deutschen Nachbars konnte ich aufs Gymnasium.” Solch eine Erfahrung haben viele andere Arbeiterkinder mit MH auch gemacht, mich eingeschlossen und unzählige Studien bestätigen es nach wie vor. Inwiefern die beiden Wissenschaftler auch vergleichbare Ergebnisse in der Türkei hätten erzielen können, bleibt im Kontext der technisch-personell-finanziellen Ausstattung der Wissenschaftsinfrastruktur offen – viele Wissenschaftler zieht es wegen besseren Forschungs- und Arbeitsbedingungen und fehlender politischer Unabhängigkeit bzw. des politischen Einflusses auf Wissenschaftseinrichtungen gerade ins Ausland.
Bemerkenswert ist die Vereinnahmung auf beiden Seiten. Für #identitäre Türken bzw. Türkeistämmige ist der Hinweis auf seine ethnisch türkische Herkunft – weil er aus der kosmopolitischen Provinz Hatay stammt – zentral in ihrer Kommunikation. Für viele #Aleviten wiederum steht seine #Konfession im Zentrum dieser Zuschreibung, in keinem der Fälle ist aber bekannt, welche Hintergründe er hat.
Demgegenüber ändert sich das #Wording vieler hiesiger Medien, indem der #Migrationshintergrund beider deutscher Wissenschaftler unerwähnt bleibt. Dies ist formell richtig, weicht aber deutlich von ihren üblichen Berichterstattungsformen ab und offenbart die flexible Einordnungspraxis von medialen Protagonisten je nach Sachverhalt: Handelt es sich um Gewalt, tritt der türkische, arabische oder muslimische Hintergrund als Ursache in das Zentrum der Berichte, womit zugleich ein subtil-pauschalisierendes #Täterprofil aus bestimmten Kulturkreisen gezeichnet wird und Rechtspopulisten sich bestätigt fühlen. Ist die Leistung bzw. die Tat gesellschaftlich nützlich, steht das Deutsche im Vordergrund.
Auch für rechtsaußengesteuerte #Identitäre ist das Wissenschaftlerehepaar nicht #Deutsch, weil sie nicht in ihr ethnisch determiniertes Deutschseinkonzept passen. Sofern sie demnach keine religiös-kulturellen Ansprüche für eine gesellschaftliche Mitgestaltung erheben, könnten sie als „ihr seid ja nicht so“ noch geduldet werden.
Dieses Beispiel veranschaulicht die weltweite gesellschaftliche #Polarisierung zwischen #Nationalisten und #Liberalen, zwischen #Unilateralisten und #Multilateralisten, zwischen #Demokraten und #Populisten. Viele Staaten werden von (Rechts-)Populisten regiert, die Gesellschaften sind gespalten und Nationalismen gewinnen zunehmend an Bedeutung; gleichwohl stehen diesem Trend Menschen und Regierungen diametral gegenüber, die #Diversität als natürlich Gegeben und als Chance begreifen.
Der #Transformationsprozess von einer klar sozialstrukturierten hin zu einer #superdiversen #Gesellschaft (Religion, Kultur, Ethnie, Bildungsniveau, Alter, sexuelle Orientierung, ländliche oder städtische Sozialisation, ökonomischer Status, Beruf, Berufstätigkeit, Lebensstil, Familienstand u.v.m.) ist im vollen Gange.
Diese Diversifizierung – auch ein Ergebnis (neoliberaler) #Globalisierung – ist unumkehrbar und Ziel muss sein, sie und die damit verbundene #Mehrfachidentität als neue Normalität zu verstehen und in einem geordneten rechtlichen Rahmen sozial und ökologisch gerecht und zukunftsorientiert auszuhandeln. Deshalb ist es völlig irrelevant, welchen Hintergrund das Wissenschaftspaar hat, sie sind Spitzenforscher; vielmehr zählt, dass sie durch #Ehrgeiz und #Visionen einen Beitrag für die Menschheit leisten. Sie sind damit ein #Vorbild und zeigen auf, durch Fleiß und Zielstrebigkeit eigene Ziele erreichen zu können.
Sie zeigen aber auch auf, dass durch das nach wie vor sozial selektive Bildungswesen unzählige Talente unentdeckt bleiben und durch das Raster fallen. Deshalb ist eine #Bildungsreform – vor allem wegen der Pandemie – dringender denn je, doch seit über einem halben Jahr warten Schüler*innen und Lehrkräfte immer noch auf die versprochene digitale Ausstattung, die vor allem in ökonomisch benachteiligten und bildungsfernen Familien mehr denn je notwendig ist – ein Armutszeugnis!
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Der Autor Caner Aver ist Wissenschaftlicher Mitarbeiter an der Stiftung Zentrum für Türkeistudien und Integrationsforschung und Mitglied des Rates der Stadt Essen, SPD und mein lieber Freund.
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Noch etwas! Interessant ist nur, dass die Türken erst dann zu etwas bringen, wenn sie im Ausland, also außerhalb der Türkei, sind. Es sind zumeist die Türken und Türkinnen die in die USA auswandern. In Deutschland gibt es sie auch, aber hier gibt es im Gegensatz zu US-Türken auch welche, die helle sind, studieren, sich aber mit den demokratischen Grundwerten nicht arrangieren können und einem Diktator ähnlichen Alleinherrscher in der Türkei folgen.