Garten Eden mitten in Istanbul

Garten Eden mitten in Istanbul. Das letzte Mal wollte ich schon die Geschichte mit dem Besenbinder erzählen, aber wie das so ist bei mir, ich schweifte ab und erzählte eine andere Anekdote. Heute ist nun der Besenbinder dran. Schon als Kind von 8-9 Jahren, hatte ich mit einem Besenbinder direkt zu tun. Daran erinnerte mich diese Figur unten, die ich auf dem Trödelmarkt in Aschaffenburg entdeckte. Irgendwie hatte ich Mitleid mit dem Typ, so wie er schaut und sich gab, als ob er lebendig wäre. Um ihn herum auf der Theke, sah es nicht besser aus, denn lauter Jesus-am-Kreuz-Figuren umgaben ihn.

Wegen einer fehlenden Hand nur 50 Cent wert.

Ich griff nach der Figur und hatte nicht einmal registriert, dass ihm eine Hand weggebrochen war. Die Verkäuferin sagte: „Ihm fehlt eine Hand, können Sie  für 50 Cent haben!“ Hätte die Frau gesagt: „Nehmen sie ihn mit, ich schenke es Ihnen!“ hätte ich ihr noch fünf Euro gegeben, aber bitte, 50 Cent rübergereicht und die Besenbinderfigur aus der Theke des Leidens befreit.

Ich bin in İstanbul an  einer Straße geboren, die heute und schon immer zu den zehn attraktivsten Straßen der Welt zählte. Natürlich je nachdem, wer die Liste machte. Wer diese Straße erlebt hat, weiß automatisch, dass das nicht nur Gerede ist. Alle Nobelmarken der Welt, Restaurants, Cafè’s, Bars …

Wer auf dieser Straße geht, kann nicht erraten, in welchem Land der Welt er ist. Westlicher geht es mehr kaum.

Ausgerechnet an dieser Straße bin ich geboren worden. Hausgeburt, 6,5 Kilo Lebendgewicht. Ich weiß, an dieser Stelle empfinden viele Mitleid mit meiner Mutter, aber sie hat es überlebt und ist heute 88 Jahre alt.

Was heute undenkbar zu sein scheint , weil alles zugebaut ist, hatten  wir einen riesigen Garten mit zwei Häusern auf dem Grundstück. Eines mit zwei Etagen, wo mein Onkel mit seiner Familie lebte und als Internist praktizierte und ein Flachbau, wo wir hin und wieder phasenweise lebten, wenn unserem Vater wieder danach war, in die Türkei zu ziehen. Dann gab es noch ein Holzhäuschen an einer Ecke des Gartens, ca. 40qm  und ziemlich runtergekommen. Obwohl wir das Häuschen nur mit Schutt drin kannten, sagte mein Onkel, wir sollten es jemandem vermieten, der sich auch um unseren Garten kümmern könnte. Die Fläche war zwar mit ca. 800qm nicht klein, da aber nur Unkraut und Steine darauf waren, gab es auch nichts zu pflegen.

Wir fanden einen Handwerker, der das Häuschen auf Vordermann brachte. Siehe da, es wirkte auf einmal wunderschön, mit dem frisch poliertem Holz. Bis man einen Mieter fand, spielten wir Kinder darin.

Dann war der Mieter gefunden. Ein Besenbinder. Übrigens, auch wenn der Beruf des Besenbinders fast ausgestorben ist, so nur fast. Es soll immer noch einen geben, der in dem Viertel den Beruf ausübt. Da er keine Konkurrenten mehr hat, soll es ihm auch richtig gut gehen.

Für uns Kinder, damals ich, mein jüngerer Bruder Memo und meine Cousine, war es total spannend zu sehen, wie er seine Besen, klein und groß herstellte. Jeden Morgen dann schnürte er an die 30 Besen um seinen Körper und zog durch die Straßen. Tatsächlich kam er jeden Tag mit einigen wenigen zurück, manchmal sogar ohne Ware. Er bewohnte das Häuschen umsonst, denn er sollte sich ja um den Garten kümmern. Was dann passierte, hätte man sich nicht träumen lassen. In kürzester Zeit hatten wir im Garten Tomaten, Gurken, Feldsalat, Radieschen, Möhren und 20-30 Hühner. Im Nachhinein betrachtet, muss ich feststellen, dass auf der 16 Kilometer langen Bagdat Straße, in der Türkei „Die Straße“ genannt, wir die einzigen Kinder waren, die in Natura erleben dürften, wie die o.g. Sorten wachsen. Uns besuchten sogar die Nachbarskinder, um zu sehen, wie alles wuchs. Gäbe es heute so ein Fleckchen, würden wahrscheinlich ganze Schulklassen uns besuchen.

Mein Onkel Dr. med. Sabih Suner. Immer mit Haargel und immer mit einem Opel Rekord unterwegs.

Mitte 70er Jahre konnten wir das Marmarameer, knapp 200 Meter von uns entfern, nicht mehr sehen.  Vier Stöckige Häuser wurden an der Straße entlang gebaut. Hoch genug, dass wir den Meerblick abschreiben konnten. Anfang 80er Jahre passierte es dann. Ein Bauunternehmer klopfte bei meinem Onkel und seiner Schwester, meiner Mutter, an. Er wollte, wie auch heute üblich in der Türkei, auf dem Grundstück ein Mehretagenhaus bauen und einen Teil für sich behalten und darüber seinen Gewinn erzielen und den Rest den Eigentümern geben. So verschwand einer der letzten Gärten auf der Prachtstraße, samt der vielen Bäume die draufstanden. In der Bauphase waren wir in Deutschland, mein Onkel zog in eine Mietwohnung genau gegenüber und konnte sehen, wie sein neues Zuhause wuchs. Der letzte, der das Grundstück verlassen musste, war der Besenbinder. Da er in der letzten Ecke des Grundstückes war, wo der Parkplatz kommen sollte, dürfte er noch fast 1,5 Jahre dort weiterleben. Übrigens hat er, der aus Antalya stammte, drei seiner Kinder, davon zwei Töchter, auf die Universität geschickt. Zumal ihm dieses von meiner Mutter und unserem Onkel immer eingebläut wurde. Alle drei sind Ärzte bzw. Ärztinnen geworden, wie unser Onkel. Die Geschichte wollte ich mit Euch teilen.

Hochzeit von meinem Onkel und seiner Frau Göksel 1953. Mögen sie beiden in Frieden ruhen.

 

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