Es gibt und gab sie, diese türkischen Mütter

Auf die Mütter kommt es an. – Meine Mutter hat mir das mitgegeben, was heute meinen Charakter ausmacht. Eigentlich kann ich mich nicht daran erinnern, dass sie mir irgendeinen Rat gegeben hätte, durch die Jahre, wie ich mich in bestimmten Situationen zu verhalten hätte. Nein, sie lebte es uns vor. Sie begegnete allen Menschen mit der Güte, die sie uns, ihren Kindern und ihrem Mann entgegengebracht hatte. In Istanbul waren unsere Nachbarn, Griechen, Armenier, Juden, Christen … Wir Kinder spielten miteinander und unsere Eltern waren die besten Freunde und Nachbarn. Muss man da noch erwähnen, dass wir Menschen, gut miteinander auskommen sollten? Ich möchte hier auch unseren 1994 verstorbenen Vater nicht unerwähnt lassen, denn von ihm haben wir erfahren dürfen, dass Männer und Frauen gleich sind. Auch er gab mir ein Leben lang nicht einen einzigen Rat. Unbewusst lebte es vor, in dem er unserer Mutter Wertschätzung entgegenbrachte. Sogar die Geste von ihm, dass er sofort aus dem Beifahrersitz eines Autos heraussprang (er hatte keinen Führerschein) die Tür aufmachte, damit unsere Mutter aussteigen konnte. Das hätte unsere Mutter sicher auch alleine gekonnt, aber so war er. Unsere Charaktere haben sie geprägt. Kommen wir zur Überschrift: „Es gibt diese türkischen Mütter“.

Ich musste heute lesen, dass die liebe Mutter von Cem Özdemir verstorben ist. Mein aufrichtiges Mitleid deshalb, weil ich sie, nein, nicht kannte, aber seit dem Nachruf von Cem Özdemir doch. Und zwar sehr gut. Den Text unten habe ich vom offiziellen Facebook-Account vom Cem Özdemir und möchte es mit Euch teilen.

Wer ich geworden bin, verdanke ich zu einem großen Teil meiner Mutter Nihal Özdemir. Sie hat mich früh Respekt für unsere christlichen NachbarInnen gelehrt. Als es an der Schule keinen muslimischen Religionsunterricht gab, schickte sie mich in den christlichen Religionsunterricht, weil sie sagte „die glauben auch an einen Gott, so wie wir“. Meine FreundInnen waren portugiesische, griechische, italienische, jugoslawische (damals gab es noch Jugoslawien) und natürlich deutsche Kinder. Wir Gastarbeiterkinder hatten keinen deutschen Pass. Unsere gemeinsame Sprache war schwäbisch und paar Brocken (überwiegend nicht jugendfreie Flüche) in all unseren Sprachen.

 

Bei uns zuhause war die Bude oft voll, meine Freundinnen und Freunde haben mich gern besucht. Im Gegensatz zu unseren deutschen Nachbarn lief meistens der Fernseher, wir durften Stan und Olli, Männer ohne Nerven oder Schweinchen Dick gucken, bis unsere Augen viereckig wurden. Bei den Nachbarn war der TV-Konsum dagegen eingeschränkt, meine Mutter hatte nichts dagegen. Wenn sie von der Arbeit in der Papierfabrik müde zurückkam, brachte sie uns immer Süßigkeiten mit, auch das gab es fast nur bei uns. Sie konnte nicht verstehen, dass andere Eltern ihren Kindern Gummibärchen und Schokolade vorenthielten und auch die Flimmerkiste dort selten lief. Meine Mutter hielt diesen Mangel für ein Zeichen von Armut und dachte, wenn die Nachbarsfamilien sich Süßigkeiten und Fernseher nicht leisten können, dann muss ich das eben übernehmen, wie es sich für gute Nachbarn eben gehört.

Meine Mutter war eine beeindruckende und mutige Frau. Sie kam alleine nach Deutschland, hat sich selbst für ihren späteren Mann, meinen 2015 verstorbenen Vater Abdullah Özdemir entschieden. Sie liebte die türkische Republik und war dem Republikgründer Atatürk stets dankbar für die Trennung von Staat und Religion und die Befreiung der Frauen vom Schleier und der Unterdrückung. Wir haben uns oft streitbar darüber unterhalten. Ich kritisierte ihre „CHP“ und hoffte anfänglich auf ein Bündnis von moderaten Muslimen und Liberalen, um mit einer Art türkischer CDU die Türkei zu modernisieren. Ich habe mich geirrt, sie hatte Recht mit ihrer Warnung vor der Vermischung von Religion und Politik. Ich kritisiere den Kemalismus und seinen Umgang mit den Minderheiten immer noch und am Ende haben wir uns beide auf ein Leben und Leben lassen geeinigt. Jeder nach seiner Façon. Wer glaubt glaubt, wie jemand glaubt, geht nur die Gläubigen etwas an und wer nicht glaubt, ist deshalb kein schlechterer Mensch.

Später, als ich schon in der aktiven Politik war, hat sie mir von ihren Erfahrungen am 6./7.September 1955 während des Pogroms an der griechischen Minderheit in Istanbul und davon, dass ihre Großmutter selbst Griechin war, erzählt. Ich begriff, welchen unterdrückten Schmerz nicht nur sie in sich tragen musste, ohne dass man darüber sprechen durfte. Dies war sicher einer der Gründe, warum ich anfing, mich für das Schicksal der aus der Türkei weitgehend verschwundenen Christen zu interessieren.

Wenn ich irgendetwas über Liebe, Menschlichkeit und Bescheidenheit gelernt habe, dann verdanke ich es meinen Eltern und ihrer Überzeugung, dass man Patriot sein kann, ohne Nationalist zu sein. 1994, im Jahr meiner Wahl in den Bundestag, haben sie sich endgültig entschieden, die deutsche Staatsbürgerschaft anzunehmen und waren wahrscheinlich die stolzesten WählerInnen. Keine Wahl haben sie seither ausgelassen, denn sie empfanden es als ihre BürgerInnenpflicht das Wahlrecht zu nutzen. Meine Versuche, sie aus Bad Urach wegzulocken, sind gescheitert. Ihre Liebe zu meinem Geburtsort war so stark, dass schließlich ich wieder, zwischenzeitlich verheiratet und zwei großartige Kinder, öfter nach Bad Urach kam, den Ort, den ich nach der Schule nicht schnell genug verlassen konnte. Auch hier hat sie sich durchgesetzt. Dort, dem Ort, wo der Bürgermeister den Älteren zum Geburtstag gratuliert, wo die Nachbarn nach einem Fragen, wenn man mal am Morgen nicht zu sehen ist, wo gute Geister für einen Einkaufen, wenn man es selbst nicht mehr kann und klingeln, wenn abends die Zimmer dunkel bleiben und das Licht nicht angeht. Dort ist sie in ihrem Bett friedlich eingeschlafen und nicht mehr aufgewacht, so wie sie es sich gewünscht hatte. Und wie sie es sich gewünscht hatte, wird sie neben meinem Vater auf dem muslimischen Teil des Friedhofes beerdigt werden. Meine Mutter kam aus der Großstadt Istanbul in die schwäbische Kleinstadt Bad Urach und fand dort, zusammen mit meinem Vater, ihre zweite Heimat. Es sollte ihre letzte Heimat werden.

Meine Mutter wurde 88 Jahre alt. Sie hat viel erlebt und durchgemacht, die Zeit hat an ihr gezerrt aber ihr auch viel geschenkt. Für diesen Lebensweg habe ich in meinem Herzen ein Denkmal für sie errichtet, vor dem ich mich nicht nur heute verneige.

Ich bin ein Einzelkind, aber ich bin nicht allein, das habe ich gerade in den vergangenen Tagen erfahren. Ich danke Euch für Eure Anteilnahme. Möge die Erde meiner Mutter leicht sein.“

 

 

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