Der kranke Mann am Bosporus, kranker als jemals zuvor

Der Bosporus steht da in voller Pracht, aber was hat das Volk davon? Die Maßnahmen der Regierung, um den Verfall der Lira zu stoppen, scheinen, wie schon bei vorangegangenen ähnlichen Versuchen von vor Jahrzehnten, nicht gegriffen zu haben. Schon steht der Euro wieder bei 15 TL.

Wieder sind die am Werk, die mit Geld, noch mehr Geld machen und das ohne ein Mehrwert für Land und Leute.

Vielerorts in der Türkei hat man Silvester mit Böller gefeiert. Exakt in dem Moment, was die wenigsten wussten, sind die Strompreise bis 150 kWh Verbrauch um 52% und darüber um 127% teurer geworden. Es sieht wahrlich nicht gut aus für die Menschen. Das Gefälle reich zu arm wird immer größer. Da sind die einen, die vom Eingemachten der letzten Jahrzehnte locker zehren können und nichts entbehren müssen und die anderen, die im Schuldensumpf versinken und nicht mehr weiterwissen. Es darf nicht darüber berichtet werden, aber Selbstmorde haben Konjunktur, berichten Freunde bei der Polizei. Es gibt für viele keinen Ausweg. Sie scheiden still und leise aus dem Leben und hinterlassen, Trauernde und Leidende zurück. Wie soll die Familie auf die Beine kommen, wenn der Familienoberhaupt, der Ernährer der Familie, gegangen ist?

Für die in Deutschland lebenden kann man mit Worten schwerlich darstellen, welche Tragödien sich in der Türkei abspielen. Wie immer steht an jedem Laden die Aufschrift: “Mitarbeiter/in gesucht”. Das war schon die letzten Jahrzehnte nie anders gewesen. Die Arbeitsuchenden wissen, dass es den Ladenlokalen, egal welchem Gewerbe sie zugehören, schlecht geht. Sollen sie die Arbeit annehmen, einen ganzen Monat arbeiten und am Ende mit dem Gehalt, auf den kommenden Monat vertröstet werden, wo sie wissen, dass es da nicht besser werden wird, oder lieber gar nicht arbeiten?

Die Masse der Menschen ist seelisch wie finanziell am Boden. Wie soll eine Erholung bzw. Besserung stattfinden? Die Bildung in den Schulen kann man gänzlich abschreiben. Nicht, weil dort nichts gelehrt wird, nein, wie in Deutschland und woanders auch, ist es so, dass wenn die Familie in Armut und finanziellen Sorgen lebt, die Kinder sich die Probleme der Familie verinnerlichen und nichts mehr lernen bzw. schlecht lernen können.

Die Türkei kann derzeit nur hoffen, dass die Hand wechselt, heißt, dass ein anderer regiert, egal wer. Wichtig ist, dass man die Verfassung dahingehend ändert, dass man wieder zur parlamentarischen Demokratie zurückfindet. Erst dann wird die Türkei anfangen können, sich zu verschulden. Das ist zwar auch kein Ausweg, aber der einzige Weg, den man beschreiten kann und muss, denn die Türkei braucht einen Plan zur Erholung und muss dieses mit den Geldern der IWF finanzieren können.

Derzeit ist eine Kreditaufnahme unmöglich, zu mal die Bonität des Landes am Boden ist und auch kein Plan existiert, wie man die Finanzen wieder in den Griff bekommt. Wer gibt außerdem einer Nation in dieser Situation Geld, wo einer an der Spitze ist, der alleine das Sagen hat, der mit seinen Seilschaften, alles was an Werten da ist, der Nation wegnimmt, verscherbelt und die eigenen Taschen vollmacht?

Als „kranker Mann am Bosporus“ wurde im 19. und bis ins 20. Jahrhundert das geschwächte Osmanische Reich, aus dem später die Türkei hervorgehen sollte, von vielen Medien der damaligen Zeit persifliert. Den Zustand haben wir derzeit.

Kaltstart X - Das Buch von Ahmet Refii Dener

Das könnte dich auch interessieren …