Als Opa türkischer Bildungssenator war

Mein Großvater wurde im Jahr 1968 zum türkischen Bildungssenator ernannt (vom Präsidenten), ohne sich darum beworben zu haben. Sein Umfeld war begeistert, ihm selbst war klar, dass er sich zerreißen wird, ohne dadurch etwas zu bewegen. So kam es dann auch.
Ich habe ein Video über die Privilegien der Abgeordneten im deutschen Bundestag im Facebook geteilt. Dazu geschrieben habe ich, dass man sich nicht daran aufhängen sollte, dass der AfD-Mann Stephan Brandner sich in einer Bundestags-Rede darüber auslässt, sondern sich über das, was er kritisiert, aufregen sollte. Was nicht geschah. Die meisten regten sich über mich auf, dass ich der AfD eine Plattform mehr bot. Ich wäre ein Faschisten-Fanboy, war eines der Nettigkeiten, die man in meine Richtung schmiss. Reden ist Silber, schweigen ist Gold, ist die Maxime, die man in solchen Momenten umsetzen sollte. Heutzutage kannst du sowieso niemanden bekehren. Laufen lassen!
Interessant fand ich, dass bei der Aufzählung der Abgeordneten-Privilegien durch Brandner viele Abgeordnete im Saal sich aufregten, was darauf hindeutet, dass ihnen das Ganze ziemlich peinlich war. Für wenig bis nichts tun so viel Geld und Vergünstigungen, während das Volk immer mehr mit der Armut zu kämpfen hat. Da wäre ich wahrscheinlich als Abgeordneter ebenfalls not amused.
Das Video hatte mir ein FDP-Freund geschickt. Was auch unterstreicht, dass er, mein Freund, ein Guter ist, der gut und schlecht unterscheiden kann. Nur weil die Verpackung einem nicht passt, muss der Inhalt nicht schlecht sein. Ich habe einige Male tolle Texte von der Achse, die nicht meine eigenen waren, bei Facebook als eigenen Beitrag gepostet. Die Quellenangabe und wer es geschrieben hatte, fehlte jeweils. Fast 100 Prozent fanden den Text gut und waren derselben Meinung. Einige Tage später dann, habe ich den Beitrag nochmals mit Autor und Quellenangabe Achgut.com geteilt. Siehe da, der Inhalt spielte auf einmal keine Rolle mehr. „Wie kannst Du nur?“, „Nazi“, „Faschistenschwein“. Wenn mich der Facebook-Algorithmus warnte, dass ich deren Standards verletzte, habe ich den betreffenden Beitrag gelöscht, damit ich keine Sperre bekam und so weiter. Der Facebook-Algorithmus und die Leserschaft saßen in einem Boot. Tage zuvor war es neutral gehalten, ohne Quellenangabe ein toller Text, aber jetzt …
„Herr Professor, mit Ihnen wird alles anders!“
Zurück zum Video von der Brandner-Rede: Dass da viele Abgeordnete reinbrüllen, kann man verstehen. Das ist das schlechte Gewissen, dass sie für so viel Geld so wenig tun. Nach meinem Ermessen ist das so. Für mich tauchen die hellsten Köpfe und die tollsten Typen, sobald sie in den Bundestag, oder in irgendein Parlament auf der Erde gewählt werden, in eine Art Parallelwelt ein und nabeln sich vom Rest ab. Sie sind mit sich und ihrem Tun immer zufrieden. Reden, Reden, Reden, sich da und dort zeigen und gut ist. Einige im Parlament tun gar nichts und sitzen ihre Zeit gemütlich ab. So wie damals in der Schule, wenn man immer hinten sitzen und niemals drankommen wollte.
Mein Opa, Prof. Hayri Dener, saß als Senator für Bildung im türkischen Parlament und unterstand in dieser Eigenschaft dem Bildungsminister. Er war nicht vom Volk gewählt, zumal ihm nie in den Sinn gekommen wäre, in die Politik zu gehen. Er war ein Macher und in der Position als Rektor der Wissenschaftlichen Fakultät sowie Professor für angewandte Physik an der Universität von Ankara eigentlich am richtigen Platz (siehe hier).
Es war Sommer 1968. Diese Jahreszeit verbrachten wir Enkel, ich eingeschlossen, immer im Sommerhaus vom Opa in Istanbul. Als 10-Jähriger kann ich mich noch daran erinnern, wie das Telefon heiß lief und alle Opa gratulierten. Er konnte sich anfänglich keinen Reim darauf machen, was ablief. Dann aber kam ein Beamter mit einer Mappe vorbei und überbrachte ihm die Nachricht: Mein Opa war vom Präsidenten zu einem der 15 Senatoren ernannt worden, auch noch für die Bildung, sein Steckpferd. Damals durfte der Präsident honorige Personen – Akademiker, zumeist Professoren –, zu Senatoren in bestimmten Bereichen erklären.
Aus den Anekdoten eines seiner Studenten konnte ich später Folgendes entnehmen: Opa verabschiedete sich von den Studenten und den Lehrpersonen der Universität in Richtung Parlament. Die Studenten sagten: „Herr Professor, mit Ihnen wird alles anders. Wir glauben an Sie!“ Prof. Hayri Dener soll darauf geantwortet haben: „Ach, macht Euch mal keine Hoffnung. Ich werde mich zerreißen, ohne etwas bewegen zu können. Das ist so in der Politik. Auch die Fähigsten wirken wie Amateure, wenn sie einmal gewählt sind. In sechs Jahren sehen wir uns dann hier wieder.“
„Es macht keinen Sinn, hier über die Bildung zu sprechen“
Tatsächlich hätte er auch wegbleiben können. Er bildete zwar wie alle Senatoren seine Arbeitsgruppe, wo es nur um die Bildung ging, viel bewegt hat sich dadurch aber nicht im Bildungswesen der Türkei. Er ergriff in sechs Jahren zehnmal das Wort, und erstaunlicherweise hat er nur bei seiner ersten Rede (siehe Foto), bei der die gesamte Familie voller Stolz anwesend war, etwas verändert, das bis heute Bestand hat.
Bekanntlich schlafen viele Abgeordnete bei den monotonen Reden ihrer Kollegen auch in Deutschland ein. Warum sollte das in der Türkei anders sein? Das bemerkte Opa und sagte in etwa: „Es macht keinen Sinn, hier über die Bildung zu sprechen, wenn die meisten in diesem dunklen Licht des Parlaments ihre Nickerchen halten. Ich beantrage offiziell, dass die Beleuchtung des Parlaments verbessert wird, damit jeder Redner von hier aus sehen kann, wer alles schläft.“ Einige lachten, andere brüllten, weil sie aus dem Schlaf gerissen wurden. Einige Zeit später, noch im gleichen Jahr, wurde die Parlamentsbeleuchtung von Nacht auf Tag umgestellt. Es wurde so hell, wie es heute noch der Fall ist.
Für mich als Kind und Jugendlicher war es eine Zeit des Lernens. Opa lebte uns vor, wie anständige Menschen zu leben hatten. Er hatte einen Dienstwagen und einen Fahrer. Die meiste Zeit hatte sein Fahrer frei, weil Opa nicht auf Staatskosten zum Parlament oder woanders hinfahren wollte. Er kam auch für die Schulkosten der Kinder seines Fahrers auf und ließ vielen Studenten staatliche Stipendien zukommen. Oma, ihrerseits Dozentin an der Universität und mit 26 Jahren seinerzeit die jüngste Dozentin überhaupt, die an einer türkischen Universität lehrte, sagte mal: „Du machst den Staat noch ganz arm, wenn Du so viele Stipendien vergibst.“ Die Antwort von Opa, ich war circa 16 Jahre alt, klingt mir heute noch in den Ohren: „Wenn der Staat für Bildung Geld ausgibt, wird er dadurch nicht ärmer, sondern reicher. Nirgendwohin kann man besser investieren als in die Bildung der Kinder und Jugendlichen.“ Mir wird heute noch ganz anders, wenn ich darüber schreibe.
Denn in der Ära Erdogan geht es in die genau entgegengesetzte Richtung.
Erstveröffentlichung in achgut.com, am 19. 04. 2023. achgut und ichmeinsgut sind weder verwandt noch verschwägert. Das letztere ist mein Blog. Beide Medien haben dennoch etwas, was sie verbindet. In beiden kann man die Meinung kundtun, auch wenn es vom Mainstream abweicht. Kommt selten genug vor in Deutschland.