Stuhlkämpfe – Wen interessiert schon die Türkei

In der Türkei haben die Sender ihre Stammzuschauer, die sich nie woanders hin verirren. Warum sollen sie sich auch Lügengeschichten woanders auftischen lassen? Lustig ist, dass die Erdogan-Anhänger glauben, was die übriggebliebenen freien Sender ausstrahlen, wären eben Lügen. Die freien Sender müssen improvisieren und alle möglichen Kanäle, wie z. B YouTube, in anspruch nehmen.
Die Propagandasender sind für die, die noch selber denken, ein Horror. Wenn das alles, was man sich dort reinziehen kann stimmen würde, müsste die Türkei in der Rangliste der Wirtschaftsnationen, zumindest vor Japan sein.
Die Kandidaten, die sich zur Wahl stellen, egal von welcher Partei, reden zwar von der Türkei, aber meinen den einen Stuhl, den sie im Parlament ergattern wollen. Um sonst nichts anderes geht es. Die Prompter laufen heiß. Damit es echt ausschaut, wenn sie eine Rede halten, sind gleich drei Prompter am Laufen. Rechts, links und eines in der Mitte. Der Fernsehzuschauer denkt, dass diese Personen, wie aus einem Guss, ohne zu stocken reden können. Aus einem Guss können die entweder fluchen, oder anderen beleidigen, zu mehr reicht es nicht.
Der Führer der nationalistischen Partei MHP, Devlet Bahceli, kann nicht einmal vom Prompter ablesen. Er überspringt Wörter, verpasst den Text, oder verdreht die Zahlen. Verpasst er den Text komplett, schweigt er und schaut in die Gegend, so, als wollte er sagen: “Ist denn niemand da, der mir weiterhilft.” Erstaunlicherweise ist so ein Maleur dem Erdogan noch öfter passiert. Tatsächlich hat er ohne Prompter nichts mehr zu sagen. Die politische Landschaft in der Türkei ist echt schräg und eine Lachnummer für sich.
Da ist der Parteivorsitzende der DSP, nennt sich Demokratisch-sozialistische Partei, Önder Aksakal, der mit Erdogan, also mit den Rechten, koaliert. Damit nicht genug, zählt er die Namen der Altsozialisten, wie den vom 2006 verstorbenen Ur-Vater der türkischen Sozialisten, Bülent Ecevit, der, wenn er heute wählen würde, Erdogan wählen würde. Ich weiß ich nicht, wer das glauben soll.
Die Ideologie, die man repräsentiert, komplett über Bord zu schmeißen, nur um gewählt zu werden, das ist die Türkei 2023, im einhundertsten Jahr der Republik. Der erwähnte Aksakal sagte auch, dass alle, die die Opposition wählen, gottlos wären. Was er denn für die Türkei tun würde, wenn er den gewählt werden würde… Die Türkei? Daran hat er nicht gedacht, wie die Masse der zur Wahl stehenden. Wenn interessiert schon die Türkei, wenn man scharf ist auf ein Stuhl im Parlament.
Die AKP hat alle Minister die im Amt sind und waren, in den jeweiligen Städten auf ihren Listen an erste Stelle gesetzt. Sie sollen auf diese Weise sicher gewählt werden, damit sie weiterhin Immunität genießen und für ihre Vergehen als Minister nicht verklagt werden können.
Der Kandidat der Volksallianz Kemal Kilicdaroglu ist auf einem sehr guten Weg. Er geht tatsächlich seinen Weg, ohne die Gegenseite anzuschwärzen und nennt es beim Namen, was er alles für die Türkei tun möchte. Ich möchte nicht viel für die Türkei: Die parlamentarische Demokratie zurück, frei sein, bedeutet, die Meinung laut sagen zu können, ohne dafür die Folgen tragen zu müssen und Menschen, die wissen, was Anstand ist und sich gegenseitig respektieren.