Türkei: Nichts geht mehr, oder, Diktatoren verlieren keine Wahlen

Diesen Anblick werde ich wohl so leicht nicht mehr live erleben dürfen.

Showdown am Bosporus vertagt
Es kam, wie es kommen musste: Bei den Parlaments- und Präsidentschaftswahlen sprach man von einer Jahrhundertwahl, zumal die Ära Erdogan nach 21 Jahren zu Ende gehen und die Türkei wieder zur parlamentarischen Demokratie zurückkehren würde, wie alle Oppositionsparteien und -kandidaten versprachen.

Der Faktor Erdogan – das bedeutet: drehen und wenden, dass er am Ende doch gewinnt – war natürlich im Spiel und hat voll gegriffen. Wie bei den letzten Kommunalwahlen verfügten die Parteizentrale und das Rechenzentrum der oppositionellen CHP (Sozialdemokraten) über die identischen Dokumente wie die Wahlkommission der Türkei. Damals baute diese großen Druck auf, dass am Ende die staatliche Wahlkommission der Türkei, YSK, mitziehen und das verfälschte Ergebnis korrigieren musste.

Dieses Mal taten sie es nicht. Die CHP-Zentrale weist ein Ergebnis zugunsten von Kemal Kilicdaroglu aus. Zwar unter fünfzig Prozent, aber vier Prozentpunkte vor Erdogan. Obwohl die Zählung beendet ist, weigert sich die Wahlkommission, so heißt es, die Großstädte bzw. die Stadtteilstimmen, wo Erdogan mit großem Abstand hinten lag, einzupflegen. Laut Kemal Kilicdaroglu sollen es 7 Millionen Stimmen sein, die noch nicht in das System eingepflegt wurden. Wenn man das offizielle Ergebnis der türkischen Wahlen mitteilen wollte, kann man dies mit einer Floskel tun: Nichts Genaues weiß man nicht.

Da beide Kandidaten unter fünfzig Prozent geblieben sind, wird es in zwei Wochen eine Stichwahl geben. Bei dieser wird Sinan Ogan, der knapp 5 Prozent bekam, das Zünglein an der Waage sein. Er, Nationalist und Kemalist, wird für sich das Beste rauszuholen versuchen, was er auch vor den Kameras gesagt hat.

Schlimmer konnte es nicht kommen

Die Wahlbeteiligung lag bei sehr hohen 93,6 Prozent, und das ohne Wahlzwang. Das Volk wollte mehrheitlich den Wechsel herbeiführen, aber da hatte es die Rechnung wieder mal ohne Erdogan gemacht. Ein ungeschriebenes Gesetz ist, dass ein Diktator (er akzeptiert eher den Begriff „Alleinherrscher“), einmal an die Macht gekommen, keine Wahl mehr verliert.

Es ist fraglich, ob der oppositionelle Kemal Kilicdaroglu bei der Stichwahl vorne landet, denn die Wahlbeteiligung wird gefühlt niedriger ausfallen, zumal die Wähler der Opposition denken, dass Erdogan sowieso irgendwas drehen und nicht zulassen wird, dass er die Wahl verliert.

Es gab im letzten Monat vor der Wahl bestimmt über fünfzig Umfragen, die alle mit weitem Abstand den Oppositionskandidaten Kemal Kilicdaroglu vorn zeigten. Auch lag der Koalitionspartner der AKP, die nationalistische MHP, bei allen Umfragen unter 10 Prozent, wäre also nicht mehr im Parlament vertreten. Dieser ist aber locker ins Parlament einmarschiert. Eine Partei, die keinerlei Wahlversprechen machte, aber den Teufel an die Wand malte, wie schlimm die anderen seien.

Die Türkei tickt anders

Sensationell ist, dass in den Städten, in denen bei der letzten Erdbebenkatastrophe über 50.000 Menschen starben, die AKP und Erdogan vorn liegen soll. Der Grundtenor war vor der Wahl, auch bei den Überlebenden des Erdbebens, dass die Regierenden die Hauptschuld trugen, weil sie mehrmals in den letzten zwei Jahrzehnten alle Gebäude, die widerrechtlich nicht erdbebensicher gebaut wurden, legalisierte. Das waren all die Gebäude, die in sich zusammenstürzten und die Menschen unter sich begruben. Selbst der Schmerz über ihre Toten hinderte diese Menschen nicht, weiterhin Erdogan zu wählen?

Was die Wirtschaft angeht, konnte es für die Türkei nicht schlimmer kommen. Das ausländische Kapital stand in den Startlöchern und wollte wieder in der Türkei investieren. Jetzt aber werden sie die restlichen Gelder ebenfalls aus der Türkei abziehen.

Die Situation ist ausweglos

Auch wenn der Kandidat Kilicdaroglu noch gewinnen kann, so ist der Weg in die parlamentarische Demokratie verschlossen. Dies wollte man sofort in die Tat umsetzen, aber wenn man sich die Konstellation im Parlament ansieht, wo die AKP die absolute Mehrheit hat, würde ich sagen: besser nicht. So kann der Präsident, dieser allerdings dann zum Wohle der Türkei, von oben herab entscheiden und nichts dem Parlament überlassen, wo die AKP mit Sicherheit bei jedem Vorschlag der Opposition in die andere Richtung rudern würde.

Im Falle einer parlamentarischen Demokratie hätte der Präsident, wie in Deutschland, eher Repräsentationspflichten. Mehr Macht hätte der Ministerpräsident. Dieser könnte dann, falls er nicht Präsident wird, Recep Tayyip Erdogan werden. Die Türkei ist in einer ausweglosen Situation. Die Industrie, wenn sie nicht gerade exportorientiert ist und produzieren muss, steht still, zumal die Zentralbank den Unternehmen keine Devisen mehr verkauft, weil sie keine mehr hat. Die Zentralbank muss jetzt noch zwei Wochen bis zur Stichwahl meistern.

Es sieht nicht gut aus. Weitere fünf Jahre mit Erdogan würde die Türkei nicht einen Schritt nach vorn bringen, auf keinem Gebiet. Erdogan hat schon lange keine Geldquellen mehr.

Schlimm daran wären auch die unschuldig Inhaftierten, denn diese würden im Erfolgsfall der Opposition noch in diesem Monat freikommen. Bleibt alles, wie es ist, können sie noch lange im Gefängnis schmoren. Es sei denn, Erdogan fühlt sich so sicher auf seinem Thron, dass er sie freilässt. Ihr merkt, solange sein Name im Spiel ist, ist alles möglich, in alle Richtungen.

Autor: Ich, ARD

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