Deutschland darf uns nicht abhanden kommen

In etwa so ein Tier hat mich nachdenklich gestimmt.

1971 war ich zum dritten Mal in meinem Leben in Deutschland angekommen. Die beiden Male davor hatte unser Vater schon die Absicht für immer zu bleiben, aber er vergaß, dass er ein vom Fernweh gepackter Wandersmann war, der rastlos immer irgendwohin musste. Wie es sich später herausstellen sollte, waren wir diesmal tatsächlich für das lange Bleiben in Deutschland. Zuerst Frankfurt und dann Kölle, die ewige Heimat, auch wenn ich nicht mehr dort lebe.

In Köln, mit 13 Jahren, wollte das Schulamt feststellen, auf welche Schule ich gehen sollte. Etwas Deutsch konnte ich, oder besser gesagt, Deutsch war mir nicht fremd. Was ich in zwei Jahren Kindergarten, beim vorletzten Aufenthalt in Aachen aufgeschnappt hatte und durch die 5-6 Jahre in der Türkei noch hängenblieb, waren meine Deutschkenntnisse. Außer Hallo, Guten Tag und Auf Wiedersehen, waren keine sonstigen Deutschkenntnisse gefragt, auf dem Schulamt, so, als wäre Deutsch selbsterklärend und ich würde das in der Klasse schon aufschnappen. Damals war das wohl so. Man machte mit mir einen IQ-Test, um festzustellen, in welchen Schultyp ich gehen sollte. Das Ergebnis muss so eindeutig und mein IQ dermaßen am Anschlag gewesen sein, dass man mich auf das Neusprachliche Gymnasium, den Namen der Schule lasse ich mal weg, weil es um die Lehrer dort auch geht, steckte.

Ach ja, die Experten

Die Schulauswahl erwies sich für mich als ein Debakel. Was waren das nur für Fachleute, die mich anhand eines IQ-Testes in eine Schule schickten, wo zusätzlich zu Deutsch, für mich eigentlich eine Fremdsprache, noch Englisch, Französisch und Altgriechisch auf dem Schulplan standen. Ich war in die 8. Klasse aufgenommen worden, dann noch mitten im Schuljahr.

Schon in diesem Stadium fragte ich mich, ob diese Leute den ganz dicht bzw. Fachleute sein könnten, die über meinen Bildungsweg entschieden, ohne einen Deutschtest zu machen. Auch das großartige Ergebnis des IQ-Tests konnte kein Kriterium sein, um sich auf einen Schultyp festzulegen, denn die Frage, die man vergaß, sich und mir zu stellen war, zusätzlich zu meinen Deutschkenntnissen, wie lernwillig und strebsam ich war. Ich war nämlich der Typ Schüler „Zu schlau für diese Welt“. Zumindest stufte ich mich mit meinen dreizehn Jahren dort ein. Mit den gegebenen geistigen Mitteln (IQ), unter Minimaleinsatz, das schulische Klassenziel zu erreichen, reichte mir vollkommen. Ich denke, dass meine Mutter die erste war, obwohl sie Schneidermeisterin ist, die die Situation als erste erkannte. Sie sagte mir noch vor der Schulauswahl, wahrscheinlich um mir auch den schulischen Druck wegzunehmen: „Du bist klug, sieh zu, dass du deine Klassenziele erreichst und nicht sitzenbleibst. Ich erwarte keine guten Noten von dir. Schlimmstenfalls wirst Du selbständig. So brauchst du dich nicht bewerben.“ Das ist auch mit der Erklärung dafür, warum meine Mutter für mich die Frau meines Lebens ist (Meiner Frau zeige ich diesen Beitrag nicht).

Die fehlenden Deutschkenntnisse brachten es mit sich, dass das Bild, was sich in der Klasse um mich herum abspielte, recht verschwommen war. Durch meinen Sohn, der siebzehn Jahre alt ist und in dem Alter wie ich, in eine deutsche Regelschule reingeschmissen wurde, habe ich perfekte vergleiche. Selbst in meiner Verzweiflung von damals, war ich dennoch ein Glückspilz, wie ich heute feststelle. Auf dem betreffenden Gymnasium war ich einer von zwei Kindern mit Migrationshintergrund und in der Klasse der einzige. Auch wurde in der Klasse Hochdeutsch gesprochen und nicht wie heutzutage, Türkisch als Erstsprache. So konnte ich viel aufschnappen, aber nicht schnell genug.

Im Biologie- und Deutschunterricht wurde ich so, wie ich bin.

Im Fußball würde man sagen: „Schon innerhalb der ersten Minute fiel das 1:0!“ Als ich in die Klasse kam, ging es auf die Weihnachtsferien zu. Daran kann ich mich noch gut erinnern, dank dem Adventskranz mit echten Kerzen, den wir in der Klasse hatten. Herr Hammer war mein Biologielehrer. Er war echt der Hammer. Da er auch in der Folgezeit meinen Vornamen „Ahmet“ sich nicht merken konnte und mich deshalb mit „Du“ ansprach, holte er mich schon an meinem ersten Schultag an die Tafel. Wie das passieren konnte, weiß ich nicht, denn ich saß hinten, schön versteckt. Er drückte mir einen riesigen Behälter, gefüllt mit Spiritus und einer Echse darin in die Hand. Auch wenn die Echse nicht lebte, so starten wir uns gegenseitig an. Herr Hammer sagte: „Du nimmst dir zehn Minuten Zeit und überlegst, was du uns über diese Echsenart erzählen kannst. Wenn du so weit bist, melde dich. Danach kannst Du uns fünf Minuten lang was darüber erzählen.“ Ich fühlte mich wie in einem Paralleluniversum. Meine Blicke und wie ich meine Augen verdrehte, als ich die Echse sah, löste Gelächter in der Klasse aus.

Die besagten 10 Minuten, um die Echse zu studieren und mir Gedanken darüber zu machen, was ich anschließend 5 Minuten lang darüber erzählen sollte, nahm ich voll in Anspruch. „Bist Du so weit?“ fragte Herr Hammer und ich legte los. Die Situation war nur dadurch zu retten, dass ich die Klasse zum Lachen brachte und dadurch weniger Schmerz, hervorgerufen durch Nichtwissen, verspürte. „Herr Hammer, wenn ich in Deutsch drauflosrede, reicht mein Deutsch gerade mal für fünf Minuten aus und sie verlangen, dass ich mich über diese Echse auslassen soll, die mir völlig fremd ist.“ Die Klasse brüllte vor Lachen und machte mich in wenigen Minuten zu einem der beliebtesten Schüler der Klasse. In der Türkei war ich in einer Privatschule und Biologie war eines meiner Lieblingsfächer, aber in der Türkei schlägt man sich, wie ich heute noch besser weiß, eher mit Schafen rum als mit Echsen. War das jetzt zu politisch? Weitermachen!

Wie gesagt, Herr Hammer war der Hammer und nach dem mich das Schulamt, eigentlich die Experten, in diese Schule schickte, fragte ich mich, was denn in Deutschland abgeht. Der Deutschlehrer, der solch einen typisch deutschen Namen hatte, dass ich nicht mehr weiß, wie er hieß, schoss dann den zweiten Vogel ab. In Deutsch war ich am konstantesten unterwegs. Nur fünfer und sechser. Nach einer fünfer Arbeit, als der Deutschlehrer die Arbeiten zurückgab, sagte er zu mir: „Eigentlich müsstest Du besser Deutsch können als die Klasse, zumal das, was Du lernst, noch frisch ist, während die anderen das schon als kleine Kinder gelernt haben.“ So, bis hierhin und nicht weiter, sagte ich mir. Ich glaube, es war das Schwachsinnigste, was ich bis dahin in meinem Leben gehört hatte. Mein Selbstvertrauen wuchs mit jedem Tag, weil ich der Meinung war, dass ich über den Dingen stand. Nun gut, stimmte natürlich nicht, aber egal, es half mir und nährte mein Selbstvertrauen.

Ich hinterfragte alles, schon damals, weil man nicht sicher sein konnte, wie gut die sog. Experten waren und ob man ihnen und ihrem Wissen trauen konnte. Ich bereitete meine Schulklasse und die Lehrer darauf vor, dass ich die Schule wechseln würde. Ich wusste ja, dass ich schlauer war. Die Nachricht, dass ich die Schule wechseln würde, verfestigte sich in der Schule und im Lehrerkollegium und eines Tages, so nach drei Monaten, war ich dann weg. Erst einmal nahm ich mir Urlaub von einem Monat. Davon wussten meine Eltern nichts. Jeden Morgen verließ ich das Haus, winkte von der Bushaltestelle meiner Mutter zu und stieg einige Haltestellen weiter aus. Erst, als ich ein Brief der Schule, die wissen wollte, zu welcher Schule ich jetzt gehe, nicht abfangen konnte, flog alles auf. Auf die Realschule zu gehen, bedeutete für mich einen großen Umweg zum Studium hin, aber das war mir egal. Hauptsache mit den gegenebenen geistigen Mitteln und halber Kraft voraus, schön in Ruhe, die Ziele erreichen, da blühte ich auf.

Heute coache ich u.a. Jugendliche 

Die Pandemie kam als Bonus drauf. Vorher entriss mir der türkische Präsident Erdogan mir meinen Beruf und schickte mich 2017 wieder zurück nach Deutschland, nur weil ich die heutige Situation der Türkei damals schon habe, kommen sehen und dieses auf einem Handyvideo dokumentierte. Das passierte zu einer Phase, wo ich die meiste Zeit mich in der Türkei aufhalten musste, als Berater deutscher Unternehmen. So wurden die Aufgaben und Dienste, die ich heute erbringe, aus der Not geboren. Ich coache z.B. Jugendliche durchs Leben bzw. bereite diese auf das Leben vor. Meine Erfahrung und mein Leiden durch die Schulzeit und teilweise im Berufsleben, kommt denen voll zugute. Über Politik rede ich kaum, aber eines tue ich… Ich mache sie zu mündigen Bürgern, die alles hinterfragen und nicht alles glauben, was man ihnen von der Politik und der Gesellschaft auftischt wird. Ich bin stolz auf meine Jungs und Mädels, die alle mitziehen, denn sonst kommt uns unser Deutschland in naher Zukunft abhanden und wir merken es nicht.

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