Die Republik Türkei wird 100 Jahre und feiert nicht

Die Republik Türkei wird 100 Jahre und feiert nicht – Klar feiern die Menschen puntuell, aber der Staatsgebilde und die Regierenden haben sich schon längst von dem Republiksgedanken verabschiedet. Heute vor hundert Jahren wurde die türkische Republik gegründet. Was Mustafa Kemal Pascha, bekannt als Atatürk, mit mutigen Reformen vorantrieb, nämlich das Land zu modernisieren, weg vom Islam und in den Westen zu führen, wurde nicht vollendet, im Gegenteil: Erdogan hat die Türkei rückabgewickelt.
All seine Ziele hatte Recep Tayyip Erdogan für das Jahr 2023 ins Auge gefasst. Über 500 Milliarden USD Exporte (254 Milliarden USD, 2022), das erste eigene Verkehrsflugzeug „Made in Turkey“ (blieb am Boden, wurde nicht mehr weiterverfolgt), das erste Auto aus rein türkischer Produktion (ein Auto Marke TOGG wird derzeit zu fast 100 Prozent aus Importteilen zusammenmontiert und präsentiert). Dem Volk ein Auto zu präsentieren, hat Multimilliarden von Euro gekostet. Die Gesellschafter des Unternehmens sind von Erdogan dazu genötigt worden. Wer investiert sonst in dieser schwierigen Zeit von null auf jetzt in ein neues Autowerk? Er sagte: „Mutige vortreten!“ und sinngemäß: Sind hier keine Investoren, die Manns genug sind, in dieses Projekt zu investieren? Da er dabei Herren namentlich ansprach, die bei diesem Ereignis in der ersten Reihe saßen, sind das jetzt die Gesellschafter dieser Totgeburt von E-Auto.
Der Mann hat aber auch Wort gehalten. Er sagte, dass niemand in der Türkei länger als 100 Kilometer weit fahren müsse, um einen Flughafen zu erreichen. Tatsächlich sind seither über 40 Flughäfen gebaut worden, die allesamt, ausnahmslos, den Staat Geld kosten. So ist das, wenn du den Erbauern und Betreibern aus deiner nächsten Umgebung Auslastungsgarantien gibst, für die der Staat geradestehen muss. Türkiye, wie es seit letztem Jahr offiziell heißt, um vom Truthahn, Turkey, wegzukommen, wird noch Jahrzehnte nach Erdogans Ableben dafür geradestehen.
Kommen wir zu den Anfängen
Wenn man „Türkei“ oder jetzt Türkiye sagt, denkt sich jeder seinen Teil dazu. Dass die Türkei eigentlich ein Wunderwerk ist, das Wunderwerk eines Mannes, wissen die Wenigsten. Besonders krass sind dabei die Anfänge.
12. September 1683, an einem Spätsommertag, fand die entscheidende Schlacht um Wien statt. Die Osmanen hatten die Stadt mit 200.000 Soldaten belagert und konnten in den letzten zwei Monaten die Entscheidung dennoch nicht herbeizwingen. An diesem Morgen rückte das kaiserliche Ersatzheer an. 20.000 Kavalleristen, mit polnischen Flügelhusaren (Hussaria), trugen Brustpanzer, Armschienen und kniehohe Lederstiefel, damals die schwerste Waffe überhaupt, kamen vom Kahlenberg runter und zerstörten die Flanke des osmanischen Heeres. Die Schlacht am Kahlenberg besiegelte nicht nur die Rettung Europas vor den Osmanen, sondern war auch der Startschuss für den endgültigen Abstieg des Osmanischen Reiches. Nach Kahlenberg werden die Osmanen zu einem Spielball europäischer Machtinteressen.
Damals passierte es, dass die Osmanen die Moderne verschliefen. Verglichen mit Europa war nichts mehr zeitgemäß. Die Korruption, politische Verkrustung und der Islam lähmten die Osmanen, während der Westen durch ein dynamisches Bürgertum sich immer weiterentwickelte. Die technischen Erneuerungen und die Wissenschaft kamen in Europa mit riesigen Schritten voran, während die Osmanen auf der Stelle traten und durch den Vorsprung des Westens im Abstieg begriffen waren.
„Der kranke Mann am Bosporus“
Als „kranker Mann am Bosporus“ wurde im 19. und bis ins 20. Jahrhundert das geschwächte Osmanische Reich, aus dem später die Türkei hervorgehen sollte, von vielen Medien der damaligen Zeit persifliert.
Die damalige Zeit möchte ich mit der heutigen Zeit vergleichen. Die Industriestaaten ziehen weiter, und die türkische Republik tritt auf der Stelle. An dieser Stelle, wenn man die moderne Türkei mit seiner Industrie sieht, kommt Kritik auf, dass ich die heutige Zeit mit damals vergleiche. Klar, jedes Land kommt, mitgezogen von der Weltwirtschaft und der Moderne, irgendwie weiter. Die Türkei vergleicht sich immer mit sich selbst. Vor 15 Jahren, 10 Jahren, 5 Jahren, im 2. Halbjahr, letztes Jahr im Februar etc. Eben die Zahl, welche am besten zu verkaufen ist, wird herausgefischt. Dass man sich andere Länder als Maßstab nimmt und um das Rennen in der Weltspitze kämpft und sich weiterentwickelt – Fehlanzeige!
Weiter mit den Osmanen. Das osmanische Heer muss noch viele Kriege durchstehen, bis es zu Beginn des 20. Jahrhunderts zum „kranken Mann am Bosporus“ erklärt wird. Mit den Folgen des Weltkrieges, mit den Deutschen als Verbündete, ist das Ende dann besiegelt. Zu damaliger Zeit waren die Deutschen für die Türken die einzig wahren Freunde. Dreimal besuchte Kaiser Wilhelm II. die Türkei. Die Deutschen halfen an allen Ecken und Enden mit. 1920 dann, mit dem „Frieden von Sèvres“, wurden die Grenzen der heutigen Türkei abgesteckt.
Die Grenzen scheinen so gezogen worden zu sein, als habe man darauf geachtet, dass keine Öl- oder Gasvorkommen an die Türken verlorengehen. Es ist zwar nur eine Vermutung, dass es so war, aber Fakt ist trotzdem, dass die Türkei, was Energie angeht, komplett vom Ausland abhängig ist. Zwar stößt die Türkei, insbesondere Erdogan, immer kurz vor den Wahlen auf gewaltige Ressourcen, aber diese werden dann nicht gefördert, weil erdacht.
Mustafa Kemal kratzt die Türkei aus dem tiefsten Mittelalter ab und führt sie in die Neuzeit. Oder versucht es, wie man zum damaligen Zeitpunkt eher sagen muss, denn vielerorts war es nicht einfach, das Kalifat aufzulösen, weil die alten Eliten ihre Felle wegschwimmen sahen. Er setzt nicht für möglich gehaltene Reformen durch, was von vielen Historikern als ‚einmalig‘ in der Geschichte der Menschheit bezeichnet wird. Das lateinische Alphabet, weg von arabischer Schrift, wurde über Nacht Realität.
Die Welt kennt ihn als Atatürk
Mustafa Kemal bekommt den Ehrentitel „Atatürk“ verliehen, was „Vater der Türken“ bedeutet. Er baut die türkische Republik auf, einen souveränen Staat. Ab 1923 versucht er durch Reformen, den orientalischen Staat an die europäische Zivilisation anzugleichen. Ein laizistisches Staatsgebilde entsteht. Das Schweizer Zivilrecht, mit Ergänzung des Wahlrechts für die Frauen, das italienische Strafrecht und deutsches Wirtschaftsrecht werden übernommen.
Auch die Kleidung wird auf europäisch umgestellt. Der Fez, den die Türkei-Urlauber heute gern kaufen und auf den Kopf setzen, wird verboten. Die Beamten haben ab jetzt immer mit Anzug und Hut zur Arbeit zu erscheinen. Das Straßenbild in Istanbul, Izmir und anderen größeren Städte ist kaum mehr von europäischen zu unterscheiden.
Mit der Einführung der lateinischen Schrift erfolgt, wie bereits erwähnt, eine weitere Trennung von der arabisch-islamischen Welt.
Atatürk führt die Türkei mit eiserner Hand Richtung Zivilisation, wird aber nicht zum Tyrannen – obwohl: Die Leidtragenden könnten es anders sehen. Als ihm zum 12. Jahrestag der Republik Plakate vorgelegt werden, die ihn als den „Größten der Nation“ ausweisen, lehnt er ab. Auf den Plakaten wird der Spruch in: „Einer von uns“ geändert.
Irgendwer stellte die Frage, ob es auch gute Diktatoren gibt. Was das Staatsgebilde der Türkei angeht, war Mustafa Kemal kein Diktator, aber einer mit einer eisernen Hand, der wusste, dass es schnell gehen musste, denn seine Gesundheit spielte nicht mehr mit. Leider starb er, für die Schwere der Aufgabe, zu früh. 1938 hinterließer ein verpflichtendes Erbe, an dem die Türken scheitern sollten.
Was wir ebenfalls erst heute feststellen können, ist die Tatsache, dass die Türkei nach und während Atatürk dennoch bessere Zeiten gesehen hatte, als wir sie jetzt durchleben.
„Es wird keine 100 Jahre andauern…“
Atatürk soll gesagt haben, dass, wenn man nicht hellwach sei, in weniger als 100 Jahren der Spuk mit den Islamisten und Kalifatsanhängern losgehen würde. Was wir ja – nicht erst seit Erdogan – miterleben. Der politische Islam hat sich in der Türkei unauslöschlich etabliert. Die Vernichter sind am Werk. Es kam aber noch schlimmer. Erst als Erdogan anfing, die letzten osmanischen Herrscher, die allesamt in der Summe Versager waren, zu heroisieren, konnte man erahnen, wohin das Ganze führen sollte, nämlich zu den schlimmsten Zeiten des Osmanischen Reiches vor der Kapitulation.
Die türkische Republik war noch nie in so einer ausweglosen Situation wie heute. Die Bildung liegt am Boden, und mit jedem Tag arbeitet man an einer weiteren Verschlechterung. Der Islam, der noch niemals zuvor, nirgendwo auf der Erde, Fortschritt bedeutete, marschiert mit riesigen Schritten voran. Die Arabisierung des Landes hat enorm an Fahrt aufgenommen, weil Migranten aus dem arabischen Raum kommen und Eigentum in der Türkei kaufen. Hinzu kommen noch die auf zwischen 6 und 10 Millionen geschätzten Zuwanderer, Flüchtlinge und andere.
Eigentlich müssten alle Türken – und die im Ausland lebenden im Besonderen, oder eigentlich alle Menschen – einen Brief von Atatürk gelesen haben, auf den wir noch zu sprechen kommen. Dann wird man besser verstehen, aus welchen Anfängen die Türkei entsprungen ist.
Atatürk gibt sein Ziel vor
Im Jahre 1923 besiegelt der Vertrag von Lausanne die Befreiung der Türkei. Die Tage vergehen schnell. Am 29. Oktober 1923 dann, um 20:30 Uhr, wird die Republik Türkei gegründet und Mustafa Kemal Pascha zum ersten Staatspräsidenten der Republik gewählt. Noch am selben Abend wird die Gründung der Republik im ganzen Land mit Salutschüssen verkündet.
Am 30. Oktober 1923, also einen Tag nach der Republikgründung, schreibt Mustafa Kemal Pascha handschriftlich einen Brief an Ismet Pascha, seinen Freund und Kampfgefährten.
Den Text und die Kopie des Briefes gibt es in dem Buch „Atatürk Milliyetçiliği“. (Parola Verlag). Der Brief zeigt ein osmanisches Erbe, das die Gesichter erröten lässt, und zeigt den Weg von den Anfängen die Republik bis zum heutigen Tag. Atatürk stellt fest, dass man zwar einen großen militärischen Sieg errungen habe, dennoch würde man noch am Anfang stehen und bei null anfangen.
Die Feststellungen sind einmalig. Lange Rede, kurzer Sinn: Hier ist die Übersetzung des Briefes:
Atatürks Brief
Mein Lieber Ismet Pascha,
dich stelle ich mir als den ersten Ministerpräsidenten der Republik vor. Halt, sag jetzt nicht sofort ‚Nein‘.
Ich sage dir, warum ich mich für dich entschieden habe.
Uns erwartet wieder ein großer Krieg. Einen Teil davon kennst du als Frontkommandant und Hauptdelegierter bei den Verhandlungen zum Lausanner Vertrag natürlich selbst.
Nach deiner Rückkehr aus Lausanne hast du uns selbst berichtet, dass die großen Nationen unsere katastrophale Lage kennen und damit rechnen, dass wir uns bald ergeben werden.
Ich sage dir aber jetzt etwas noch Traurigeres und resümiere unsere momentane Lage.
Wir haben ein überschuldetes und krankes Land geerbt.
Wir sind eine Nation, die aus einer bettelarmen Landbevölkerung besteht.
Wir haben kaum Straßen, die über vier Jahreszeiten dauerhaft benutzt werden können. 4.000 km Schiene, wovon uns nicht ein Meter gehört. Außerdem nicht ausreichend. Wir müssen das Land vom Norden, bis Süden und vom Westen bis nach Osten zu einer Einheit werden lassen.
Die Marine ist in einem traurigen Zustand.
Wir müssen der Bevölkerung Land und zwei Ochsen geben und diese zu Bauern werden lassen.
Die Konstellation mit den Stämmen, Agas und Scheichs im Osten ist mit der Republik nicht vereinbar.
Wir müssen die Situation in Ordnung bringen und das Volk retten. Die Geldverleiher nehmen das Volk vielerorts aus.
Eigentlich sollen wir ein Agrarland sein, nur das Mehl für unser Brot müssen wir aus dem Ausland kaufen. Die Rinderpest vernichtet unsere Rinderzucht.
Wir haben 337 Ärzte, 434 Gesundheitsbeamte und 136 Hebammen. [Dazu muss man wissen, dass die Türkei von der Fläche her doppelt so groß ist wie Deutschland, Anm. ARD].
Apotheken haben wir nur in den wenigsten Städten.
Die Seuchen töten unsere Menschen. 3 Millionen Menschen haben allein Trachom [stark ansteckende Krankheit, lässt die Menschen erblinden, Anm. ARD].
Malaria-, Typhus-, Tuberkulose-, Syphilis- überall [hat die Republik gänzlich in den Griff bekommen, Anm. ARD].
Das sind ernste Probleme.
Das halbe Volk ist krank. Die Kindersterblichkeit liegt bei über 60% bis 80%. Die Bevölkerung lebt auf dem Lande und ein Großteil davon sind Nomaden.
Telefon, Motoren und Maschinen haben wir nicht.
Die Industriegüter kaufen wir alle aus dem Ausland. Sogar die Ziegelsteine müssen wir im Ausland kaufen [wie heute auch wieder, Anm. ARD]. Strom gibt es nur in Istanbul und in einigen Vororten von Izmir.
Die Feinde haben 830 Dörfer komplett vernichtet. 114.408 Gebäude wurden in Brand gesteckt. Wir müssen fast das ganze Land nochmals neu aufbauen.
Es gibt allein über 400.000 Flüchtlinge aus Griechenland.
Unsere Wirtschaft und der Bildungsstand sind mitleiderregend. Wir haben kaum Ökonomen.
Nur ein Viertel der Schulpflichtigen können eine Schule besuchen. Um die Bildung der Bevölkerung hat sich niemand gekümmert.
Eigentlich muss die Republik Menschenmaterial heranschaffen und die Front der Ehrenhaftigkeit muss gestärkt werden [heute wieder die Rückwärtsrolle; immer schlechtere Bildung, Anm. ARD].
Die Kulturwerte und Historisches wurden und werden außer Landes geschafft. Die Berichte sind detailliert und geben bittere Wahrheiten Preis.
Gib bitte diese Informationen auch an die Minister und den Parteivorstand weiter. Sie sollen komplett informiert sein.
Unser Budget und unser Einkommen reichen nicht aus. Ich habe da eine Idee, wie wir aus der wirtschaftlichen Misere herauskommen können. Das erkläre ich dir, wenn wir uns sehen.
Unser Ziel muss die ökonomische Unabhängigkeit, und zwar die dauerhaft wirtschaftliche Unabhängigkeit sein [heute komplett vom Ausland abhängig, Anm. ARD].
Die Osmanen haben diese Situation zu spät erkannt und als sie es gemerkt hatten, war es zu spät.
Wir müssen der Republik eine entsprechende Verfassung geben. Um aus dieser Misere herauszukommen, haben wir weder ein Beispiel noch einen Erfahrungswert zur Verfügung.
Wir dürfen nicht aufgeben und uns mit vorläufigen Lösungen abgeben. Um das Volk zu retten, die Probleme zu lösen, einen Aufbruch auszulösen, weiterzukommen und zu einem souveränen Volk zu werden, das Niveau des Jahrhunderts zu erreichen, kurz und bündig: mit der Zeit zu gehen. Diese Ideale müssen wir erreichen [heute genau die entgegengesetzten Ziele, Anm. ARD].
Dieses Ideal vor den Augen habend, sind wir hierhergekommen. Wir müssen ab jetzt noch schneller vorwärtsschreiten. Den geeigneten Weg hierzu werden wir gemeinsam suchen und finden.
Wir werden für die armen und gefangenen Nationen ein Beispiel abgeben.
Das Schicksal hat diese heilige Verantwortung unserer Generation auferlegt.
Ich wollte die Schwere und die Ehre dieses Auftrages mit dir teilen.
Allah möge uns beistehen!
Beim Marsch in die Arabisierung stört die Republik nur
Bei der ersten offiziellen Volkszählung von 1927 betrug die Einwohnerzahl der Türkei 13,6 Millionen. Heute hat die Türkei knapp 85 Millionen Bewohner und allein die Zahl der Flüchtlinge, auch die aus der Zeit des Iran-Irak-Krieges, dürfte so hoch sein wie die Einwohnerzahl von 1927.
So, jetzt sind wir 100 Jahre weiter. Wird es nur einmal geben und müsste entsprechend gefeiert werden. Nur – wenn man realistisch ist, gibt es nichts mehr zu feiern. Verboten sind die Feierlichkeiten außerdem. Zuerst hieß es, wegen der toten Palästinenser, denn die Juden zählen nicht. Wie sagte Erdogan noch am Donnerstag: „Hamas ist keine Terrorgruppe, sie verteidigt nur ihr Land.“ Es gab sogar drei Tage Trauerbeflaggung. Übrigens, die Geschichtsschreibung der Türkei im Oktober 2023 fing erst nach dem Massaker der Hamas an den Israelis an. Das davor gibt es nicht.
Tage später hat man dementiert, dass das Verbot der Feierlichkeiten mit dem Hamas-Israel-Konflikt zu tun hätte, aber warum man nicht feiern darf, wurde nicht gesagt. Das muss nicht verwundern, denn an den vergangenen Nationalfeiertagen war das – zu Zeiten Erdogans – nicht anders. Die Republik passt halt nicht ins Bild, wenn man mit dem politischen Islam im Rücken Richtung Kalifat bzw. Arabisierung marschiert. Ich sage bewusst nicht Islamisierung, zumal die Türkei wohl niemals eine Islamische Republik werden wird. Dafür sind sich die Gruppierungen und Strömungen im Lande zu uneins.
Ein bitteres Fazit
Die Türkei ist wirtschaftlich und geistig am Boden. Wohlstand und Fortschritt braucht Menschen, die in Freiheit leben und frei denken und handeln können. Das ist nicht mehr gegeben. Wer einen Weg findet, verschwindet Richtung Deutschland, USA oder Großbritannien. Die Türkei verliert ihre Fachkräfte in alle Richtungen. Sogar Jugendliche träumen vom Ausland. Das Land steht schlimmer da als 1915, als die Besatzer im Lande waren. Das Land ist, ohne dass eine Armee eines fremden Staates einmarschiert ist, bereits besetzt, heißt, in kompletter Abhängigkeit von Importen, folglich vom Ausland.
Auch das Agrarland Türkiye, einst Selbstversorger, ist dank Erdogan in kompletter Abhängigkeit vom Ausland. Ohne Importe wäre die Türkei von Hungersnöten geplagt. Die Industrieunternehmen geben ihre Produktionen auf, weil sie die Produkte günstiger, zumeist aus China, beziehen können. Es wird gebaut auf Teufel komm raus. Nur, von Beton wird man nicht satt. Eher ist es so, dass man wegen der Geldentwertung Immobilien kauft. Die Gefängnisse sind voll von politischen Häftlingen, die ohne Anklage – und wenn mit Anklage, dann ohne Beweise, oder mit vom Staat gefälschten „Beweisen“ – einsitzen.
Die Verrohung der Gesellschaft war unvermeidbar. Die Vaterfigur Erdogan, der schlechte Manieren an den Tag legt, fand in der Jugend ihre Nachahmer. Hinzu kamen noch zu allem Übel an die 10 Millionen Syrer, die mittlerweile in der Türkei heimisch geworden sind. In ihrer Heimat hatten sie eine Geburtenrate von 5,4 Kindern pro Familie. Wenn das so bleibt, wird es im Land in zwei Jahrzehnten mehr Syrer geben als Türken. Die Türkei ist zum 100. Jahrestag der Republik in jeder Hinsicht verloren.
Schade um die Jahre, die ich mich für die Türken, für die Freiheit und Gerechtigkeit eingesetzt habe. Zu spät habe ich gemerkt, dass nicht die Führer das Übel sind, sondern das Volk, das sie wählt. Wer so wählt, hat auch nichts Besseres verdient.
Wenn Ihr mich fragt, was mich dabei geritten hat, komme ich nach langem Überlegen darauf, dass mich der Befreiungskrieg und der Reformer Mustafa Kemal Atatürk begeistert hatten. Ich dachte mir, was mit so viel Blut junger Menschen befreit wurde, verdient es, weiter zu existieren. Allerdings als laizistischer Staat, wie Atatürk vorgab.
Nachdem mir bewusst wurde, dass nur das, mein Gerechtigkeitssinn und die Tatsache, dass bei mir alles logisch aufgehen muss, mein Antrieb waren, gab ich einem Kemalisten und Nationalisten ein leeres Blatt Papier. „Schreib drauf, was dir die Türkei bis jetzt gegeben hat.“ Ihnen fiel nichts ein. „Deutschland gibt einem aber auch nichts!“, sagte einer. „Du bekommst Kindergeld, Geld vom Jobcenter, wenn du arbeitslos bist und sonstige Hilfen.“ Da wurde ihm bewusst, dass er mich beleidigte und bedrohte, wo nichts Greifbares zur Debatte stand.
Nach dem 28. Mai 2023, als die Stichwahl zugunsten von Erdogan ausfiel, war die Türkei für mich Geschichte. Auch wenn ich dort eine 91-jährige Mutter zurückgelassen habe, die ich bis zum Ende nicht fühlen und riechen werde, so habe ich dennoch null Verlangen, dahin zu gehen, wo ich geboren wurde. In den Sozialen Medien wird zum Geburtstag gratuliert: „Herzlichen Glückwunsch zum 100., Türkiye!“ Selbst für ein Smiley reicht es nicht mehr. von Ahmet Refii Dener
Erschienen bei Achse des Guten am 29. 10. 2023